Die gestörte Friedhofsruhe
Im Walsertal war einmal ein lustiger Heimgart, wo sich ein Dutzend Mädchen und Burschen beim Spinnrocken zusammenfanden. Harmlose Neckereien und Spaße wechselten in bunter Folge mit Gesang und schauerlichen Butzgeschichten; endlich sprach man vom Friedhof. Da bot ein übermütiges Mädchen jedermann eine Wette an, es getraue sich um Mitternacht zwischen zwölf und ein Uhr ein Grabkreuz vom Friedhof zu holen, das Kreuz in die Stube zu bringen und wieder auf den Kirchhof zurückzutragen. Ein Bursche nahm die Wette an - es sollte fünf Ellen Hausleinwand gelten. Schlag zwölf Uhr begab sich das Mädchen auf den nahen Friedhof, brachte ein Grabkreuz in die Stube und trug es dann wieder zurück. Mehrere Burschen folgten von ferne. Aber kaum hatte das Mädchen den Friedhof betreten, hörten die Burschen einen gräßlichen Schrei; als sich der Mutigste in den geweihten Ort wagte, fand er das Mädchen tot auf einem Grabe liegen. Ein Herzschlag hatte dem jungen Leben ein jähes Ende bereitet.
Und wie war das Unglück gekommen? Als man die Leiche aufhob, zeigte es sich, daß das Mädchen beim Einstecken des Kreuzes den Saum seines Kleides mit dem Kreuze an den Grabhügel geheftet hatte. Der plötzliche Schrecken, am Grabe zurückgehalten zu werden, hatte des Mädchens Tod zur Folge. (45)
Quelle: Holunder, 1. Jg. (1923), Nr. 40, S. 2 (Holdersepp), zit. nach Sagen aus Vorarlberg, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 50