DIE SPINNERIN AM KREUZ
1.
Auf dem Wiener Berge, gegenüber dem Wasserturm, steht eine schöne
Steinsäule, die heißt "Spinnerin am Kreuz". Eine
Sage erzählt, warum die Säule gerade hier, am Rande der Stadt,
erbaut wurde.
Es ist schon mehr als 700 Jahre her, da kam die Kunde nach Wien, daß das heilige Land von den Türken erobert worden sei. Ein Mann war aus dem Morgenlande gekommen und hatte den Wienern diese Nachricht mitgebracht. In den Schenken und auf der Gasse sprachen die Leute davon, denn der Heimkehrer hatte schreckliche Sachen erzählt: alle Christen sind gefangen, sie werden in Gefängnissen gemartert; wer kein Lösegeld zahlen kann, dem wird der Kopf abgeschlagen.
Am nächsten Tage zog ein Bote des Herzogs durch die Stadt. Er läutete mit einer Glocke, damit die Leute aufmerksam würden. Wenn sich dann viele Menschen angesammelt hatten, dann blieb der Bote stehen und sagte:
"Der Herzog läßt euch sagen, das Christentum ist in Gefahr. Die Türken können die Christen nicht leiden und vertreiben sie aus ihrem Lande. Der Herzog läßt euch ferner sagen, es wird ein Kreuzzug gemacht. Alle Männer, die mitziehen wollen, um das heilige Land zu erobern, sollen sich melden. Wer nicht mitziehen kann, der soll Geld für den Kreuzzug hergeben."
Dann ging der Bote weiter und sagte dasselbe in einer anderen Gasse.
Nun waren die Leute noch mehr aufgeregt. Viele ledige Männer meldeten sich zur Teilnahme an dem Kreuzzug; andere, die Frau und Kinder hatten, wollten etwas zahlen. Da war auch ein Mann in Wien, der war jung verheiratet und hatte kein Geld.
"Ich will auch etwas für die gute Sache tun", sagte er zu seiner jungen Frau, "zahlen kann ich nichts, darum will ich selbst mitgehen und das Heilige Land erobern helfen."
Da weinte die Frau und sagte: "Erst seit drei Tagen sind wir Mann und Frau und schon willst du fort von mir. Aber ich sehe ein, daß es nicht anders geht. Ziehe hin in den Krieg, aber gib acht, daß dir nichts geschieht und daß du gesund zurückkommst!"
Da meldete sich der Mann in der Hofburg und ließ sich ein rotes Kreuz auf den Arm nähen. Das war das Abzeichen der Kreuzfahrer.
Nach vier Wochen wurde zum Aufbruch geblasen und die Kreuzfahrer marschierten ab. Die junge Frau begleitete ihren Mann bis auf die Höhe des Wiener Berges, wo damals ein einfaches Holzkreuz stand. Dort nahmen sie Abschied voneinander. Der Frau war so weh ums Herz, sie wollte die Hand ihres Mannes nicht loslassen und sprach:
"Mir ist, als sollte ich dich nie wiedersehen !"
"Sei nicht traurig!" sagte der Mann, "ich werde gewiß wiederkommen. So, jetzt leb wohl und denke recht oft an mich!"
"Und du auch!" sagte die Frau und reichte ihm die Hand. Ihr Mann trat wieder in die Reihe und ging mit den anderen weiter. Die Frau wankte zu dem Holzkreuz, setzte sich auf die Bank und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Als sie wieder aufschaute, waren die Männer schon weit fort. In der Ferne sah sie noch eine Staubwolke. Rings um sie war es ganz still, nur die Grillen zirpten und die Hummeln brummten, als wäre nichts geschehen.
2.
Die Frau verkaufte in den nächsten Tagen ihr Häuschen in der
Stadt, kaufte sich einen Spinnrocken und zog zu den armen Leuten auf dem
Wiener Berg. Tag für Tag saß sie bei dem Holzkreuz und spann;
hier, wo sie ihren Mann zum letzten Male gesehen hatte, wollte sie ihn
erwarten. Und wie sie so saß und spann, da wanderten ihre Gedanken
weit fort übers Meer ins Morgenland; dort sah sie einen Mann tapfer
kämpfen und das war ihr Mann. Sie hatte bei ihrer Arbeit so viel
Zeit zum Nachdenken. Und eines Tages kam ihr der Gedanke, statt des Holzkreuzes
eine schöne Steinsäule erbauen zu lassen; das Geld wollte sie
sich durch Spinnen verdienen.
Dieser Gedanke verließ sie nicht mehr. Sie dachte sich das so aus: Wenn die Steinsäule fertig ist, wird mein Mann zurückkommen.
Da wurde sie wieder froh; denn sie wußte, für wen sie arbeitete.
Zwei Jahre waren indessen vergangen und die Frau spann noch immer. Alle
Leute der Umgebung kannten sie schon und nannten sie die "Spinnerin
am Kreuz". Auch in Wien hatte man schon von ihr gehört und oft
kamen neugierige Buben und Mädchen hinaus zu ihr und sahen sie scheu
aus der Ferne an. Sie machte immer ein ernstes, bekümmertes Gesicht
und sprach mit niemandem. Nur wenn ein Fremder aus dem Süden kam,
da hob sie den Kopf und fragte, ob er etwas von ihrem Manne wisse. Aber
keiner hatte ihn gesehen. Die Vorübergehenden hatten Mitleid mit
der jungen Frau; sie kauften ihr die Gespinste ab und gaben mehr Geld
dafür, als sie verlangte. Das Geld legte die Frau sorglich zusammen
und bald war es so viel, daß sie eine Steinsäule errichten
lassen konnte.
Sie ging zu einem Baumeister nach Wien und sagte: "Ich möchte
auf dem Wiener Berg, wo jetzt das Holzkreuz steht, eine schöne Steinsäule
erbauen lassen." Der Baumeister holte eine Mappe hervor, zeigte der
Frau verschiedene Zeichnungen von Denksäulen und sagte: "Sucht
Euch eine aus, liebe Frau, welche Euch am besten gefällt!"
Die Spinnerin sah alle Bilder an; endlich hatte sie das schönste
gefunden. Da sagte sie: "So soll die Säule ausschauen!"
Der Baumeister nannte ihr den Preis.
Aber so viel Geld hatte die Frau nicht, da mußte sie noch ein Jahr sparen. Als das der Baumeister hörte, sagte er: "Das macht nichts, liebe Frau! Ich fange einstweilen mit dem Bau an. Bis die Säule fertig ist, habt ihr schon so viel Geld verdient als das Denkmal kostet."
Da arbeitete die Frau noch fleißiger als früher und neben ihr arbeiteten die Bauleute.
Sie legten zuerst drei Platten als Unterlage; unten die größte, die mittlere etwas kleiner und die obere noch ein wenig kleiner, so daß Stufen entstanden. Darauf setzten sie einen achtseitigen Steinsockel und darauf kam eine schlanke Spitzsäule, ganz so, wie es auf dem Bilde zu sehen war.
Nach einem Jahr war die Säule fertig und die Frau hatte inzwischen so viel verdient, daß sie den Preis zahlen konnte. Von nun an saß sie immer auf den Stufen der Denksäule und spann. Was sie jetzt verdiente, das wollte sie ihrem Manne schenken, wenn er zurückkam.
Warum kam er nicht? Das Denkmal war ja schon fertig! Tag für Tag saß die Frau auf ihrem Platz, immer wieder schaute sie den Weg hinab, auf dem ihr Mann fortgezogen war. Und wenn der Abend kam und die Frau ihre Sachen zusammenpackte, da sagte sie leise zu sich selbst: "Heute wieder nicht! Vielleicht kommt er morgen!" Am frühen Morgen saß sie wieder auf der Höhe und spann. Und so ging es viele Wochen und Monate fort, aber ihr Mann kam nicht zurück.
3.
Drei Jahre waren bereits vergangen und die Frau wartete noch immer auf
ihren Mann. Sie war schon ganz blaß und mager geworden vor Kummer.
Als sie einmal wieder nach Süden in die Ferne blickte, da sah sie
- genau wie vor drei Jahren - eine Staubwolke. Das waren die heimkehrenden
Kreuzfahrer! Die Hände zitterten ihr vor Freude, sie legte die Arbeit
weg und schaute mit klopfendem Herzen in die Ferne. Immer näher kam
der Zug, Waffen blitzten in der Sonne. Es war ein großer Zug von
Männern, alle waren braun im Gesicht und ganz mit Staub bedeckt -
alle zogen an der Denksäule vorüber. Jedem Krieger blickte die
Frau ins Gesicht, eine ganze Stunde lang dauerte der Vorbeimarsch -
ihr Mann war nicht dabei.
Da warf sich die arme Frau auf die Stufen der Säule und schluchzte:
"Du mein lieber Gott, warum strafst du mich so hart? Drei Jahre habe ich hier gewartet und habe gearbeitet! Keinen einzigen Tag habe ich mir Ruhe gegönnt und nun ist mein lieber Mann nicht dabei. Was fange ich allein auf der Welt an? Ich mag nicht mehr leben! Mein Glück ist dahin, mein Mann ist tot, er liegt in fernem Land. Nie mehr kann ich ihn sehen, nie mehr kann ich mit ihm sprechen! Was hab ich Böses getan, daß du mich so hart strafst?"
So jammerte die Frau und die Tränen rannen über den Stein ins Gras.
Und als sie sich ausgeweint hatte, da stand sie auf. Es war Abend, die Säule warf einen langen Schatten und die Halme in den Feldern wiegten sich leise im Abendwinde. Die Frau nahm ihren Spinnrocken und wollte nach Hause gehen.
Da sah sie einen Mann mühsam die Straße heraufwanken. Er war mager und bleich, hatte einen langen Bart und stützte sich auf einen Stock. Die Frau dachte: Vielleicht weiß dieser Fremde etwas von meinem Mann. Ich will ihn fragen.
Sie trat auf den Fremden zu und wollte ihn fragen - aber die Frage kam nicht über ihre Lippen. Sie sah den Mann an und der Mann sah die Frau an - da erkannten sie einander.
Die Frau warf den Spinnrocken weg, stürzte auf ihren Gatten zu und rief:
"O du Armer, wie geht es dir? Du bist krank! Komm nach Hause, ich will dich pflegen, bis du gesund bist."
Der Mann stand einen Augenblick ganz still; dann beugte er sich nieder, ergriff die Hand seiner Frau und bedeckte sie mit Küssen. Dann sprach er:
"Du Gute! Drei Jahre hast du auf mich gewartet und nun komme ich als Kranker zurück. Ich war verwundet, war gefangen und bin zwei Jahre in Ketten gelegen. Immer dachte ich an dich! Endlich wurde ich befreit und bin gleich mit dem Kreuzheer nach Hause gezogen. Aber ich konnte nicht so schnell gehen und blieb zurück. Darum komme ich als letzter. Sei nicht böse, daß ich dich so lange habe warten lassen!"
"Du Lieber, Guter, wie kann ich böse sein! Komm jetzt mit mir und laß uns glücklich sein!"
Sie gingen nach Hause und nach wenigen Wochen war der Mann gesund. Mit dem ersparten Geld kaufte die Frau das Haus in der Stadt zurück. In dem kleinen Gärtchen baute der Mann eine Pflanze an, die er aus dem Morgenlande mitgebracht hatte und die man in Wien noch nicht kannte. Es war der Safran.
Bald verbreitete sich in Wien die Nachricht, daß die Spinnerin am Kreuz ihren Mann wieder hatte. Alle freuten sich darüber und wünschten den beiden viel Glück. Und die wieder vereinigten Eheleute lebten glücklich bis an ihr Ende.
Anmerkung: sagenumwobenes altes Wahrzeichen auf dem Wienerberg, 1375 erbaut nach dem Entwurf von Meister M. Knab, 1446 zerstört, unter Verwendung des alten Unterbaus (?) 1451/52 von H. Puchsbaum in neuer Form wiedererrichtet, großer reichgegliederter Tabernakelpfeiler über 8eckigem bzw. kreuzförmigem Grundriß mit Fialenwerk und Baldachinen, in den Baldachinen figurale Gruppen (Kreuzigung, Geißelung, Dornenkrönung, Ecce Homo), bis 1747 und 1804-68 auch Richtstätte, mehrfach restauriert; (R. K. Donin, Meister M. Knab, in: ders., Zur Kunstgeschichte Ö., 1951; F. Dahm u. M. Koller, Die Wr. S. a. K., 1991.)
Quelle: Wiener Sagen, herausgegeben von der Wiener
Pädagogischen Gesellschaft, Wien 1922, Seite 31