DAS WASSERMÄNNLEIN IN DER WIEN
Vor langer Zeit, als der Wienfluss noch nicht in einem gemauerten Bett floss, gab es oftmals Hochwasser. Das war besonders arg im Frühling, wenn der Schnee schmolz, aber auch nach einem Wolkenbruch.
Die Wiener bauten deshalb an mehreren Stellen Wehre. Mit solchen Stauanlagen versuchte man, die Gefahr eines Hochwassers zu verringern.
In der Nähe solch einer Stauanlage wohnte immer ein Wächter in seinem kleinen Häuschen, damit er zu jeder Tages- und Nachtzeit den Fluss beobachten konnte. Wenn dann Hochwasser drohte, konnte er die anderen Leute und besonders die Müller der anderen Mühlen entlang des Wienflusses rechtzeitig warnen.
In einem solchen Häuschen wohnte der Müllergeselle Johann Steinbach. Er bekam oft Besuch von seinen Enkelkindern, die besonders gern in der Nähe des Flusses spielten. Immer wieder warnte er sie vor dem Wassermann, doch die Kinder wollten gar so gerne in der Nähe des Flusses spielen.
"Der Wassermann wartet nur auf unfolgsame Mädchen und Buben, die sich zu weit in den Fluss hineinwagen! Gebt nur Acht, dass er euch nicht holt!" Aber Josef und Susanne lachten nur über den ängstlichen Großvater: "Es gibt ja gar keinen Wassermann! Du willst uns doch nur Angst einjagen!"
Da setzte sich der Aufseher mit den Kindern auf die Bank in der Nähe
der Wehr und begann, ihnen vom Wassermännlein zu erzählen:
"Natürlich gibt es den Wassermann. Ich habe gar nicht mitgezählt, wie oft er mir schon begegnet ist. Als ich noch ein kleiner Bub war, lebte ich schon hier am Fluss und musste miterleben, wie er meinen besten Freund holte. Jakob war ein besonders mutiger Bub, und er wollte immer allen Kindern beweisen, dass er sich wirklich alles traut. Immer wieder wollte er im Wienfluss baden gehen und auch auf die andere Seite hinüberschwimmen. Jedes Mal, bevor er in den Fluss stieg, band er sich einen Schwimmgürtel aus mit Luft gefüllten Ochsenblasen um, damit er nicht untergehen konnte. Einmal aber dauerte es gar nicht lange, da sahen wir am Ufer, wie er zu wanken begann und schließlich unterging. Das Wassermännchen hatte zuerst die Ochsenblasen gelöst und danach Jakob in den Fluss gezogen. Ihr könnt euch sicherlich vorstellen, wie traurig ich darüber war.
Auch mich wollte das Wassermännlein einmal erwischen, aber ich weiß genau den Trick, wie man ihm entkommt: Wenn man nämlich über den Weg springt, der in der Nähe des Flusses ist, dann hat das Wassermännlein keine Macht mehr über einen. Und genau das habe ich dann getan. Ich sprang einfach ganz rasch über diese Wagenspuren und konnte damit entkommen!
Vor ein paar Jahren ist eine andere Geschichte passiert, aber auch die ist Gott sei Dank gut ausgegangen. Nach heftigen Regenfällen versuchten einige junge Männer, treibendes Holz aus dem Wienfluss zu fischen. Einer dieser Männer stand dabei auf einem Stein, damit er das Holz leichter erwischen konnte. Ganz plötzlich rutschte nun der Stein unter seinen Füßen weg. Dadurch fiel der junge Mann ins Wasser. Zum Glück kam in diesem Augenblick ein Mädchen an dieser Stelle vorbei, und rief die anderen Burschen um Hilfe. Die kamen ganz schnell herbei und es gelang ihnen auch wirklich, den jungen Mann aus dem reißenden Fluss zu holen. Aber wir alle wissen, dass es das Wassermännchen war, das den Stein weggezogen hatte. Es wollte ganz einfach nicht, dass jemand so nahe an seinen Fluss herankam.
Susanne konnte gar nicht glauben, was der Großvater da alles aus seinem Leben erzählte: "Und wie sieht es aus, das Wassermännlein?"
"Es ist klein und hat einen Buckel. Der kleine Kerl hat ein blasses
Gesicht mit tiefen Augenhöhlen. Er trägt immer einen grauen
Gehrock, von dem ständig Wasser tropft, und einen grünen Hut
mit einem schwarzen Band. Seine Füße stecken in schwarzen Röhrenstiefeln,
die mit schwarzen Quasten verziert sind. Das auffallendste am Wassermännlein
aber sind die langen grünen Haare, die bis zum Boden reichen. Immer
wieder fährt er dann mit seinem goldenen Kamm durch. Dabei singt
er dann sehr gerne!"
Susanne war ganz aufgeregt, was der Großvater ihr da alles vom Wassermann er zählt hatte. Sie hatte den Eindruck, als hätte sie gerade den goldenen Kamm schimmern sehen. Aber der größere Bruder lachte sie nur aus, weil sie gar so ängstlich war.
Im nächsten Frühjahr kamen Susanne und Josef wieder zum Großvater auf Besuch und dachten schon lange nicht mehr an die Geschichten, die er ihnen über das Wassermännlein erzählt hatte. Die große Ziege hatte ein Junges bekommen, und der Bub spielte gleich mit dem kleinen Tier. Danach wollten die Kinder mit dem Zicklein zum Fluss hinuntergehen, denn in der Nähe des Wassers wuchsen immer die saftigsten Kräuter. Kein anderer Bauer trieb seine Tiere so nahe ans Ufer aus Angst, sie könnten in den Fluss fallen.
Plötzlich hörte Susanne einen eigenartigen Gesang. Sie dachte zuerst an einen Vogel, der so schön singen würde, doch die Melodie kam vom Fluss her. Da sah sie auf einem Stein mitten im Fluss das Wassermännlein sitzen. Es sah genau so aus, wie es der Großvater beschrieben hatte: Es trug den grauen Gehrock, von dem das Wasser tropfte, und einen grünen Hut mit einem schwarzen Band. Drunter leuchteten die langen grünen Haare, die wirklich bis zum Boden reichten. Das Wassermännlein kämmte sich langsam mit seinem goldenen Kamm. Susanne war so begeistert von dem schönen Gesang und der Gestalt des Wassermännleins, dass sie - obwohl ihr dabei sehr eigenartig zumute war - immer näher ans Wasser trat. Da sprang das Männchen plötzlich auf, spreizte seine Finger, streckte die Arme aus und wollte Susanne zu sich in die Tiefe ziehen. Doch das Mädchen begann zu schreien und sprang über den Weg in der Nähe des Flusses, so wie der Großvater es erzählt hatte.
Als Josef das Geschrei seiner Schwester hörte, drehte er sich um und stieß dabei aber an der kleinen Ziege an, so dass sie über die Böschung ins Wasser kollerte. Er wollte ihr nachlaufen, aber Susanne rief: "Gib Acht, der Wassermann ist da!"
So gewarnt packte der Bub schnell den Ast eines Baumes, der am Ufer stand, und hielt sich daran fest. Mühsam kletterte er die Böschung wieder hinauf. Entsetzt mussten die beiden Kinder von oben mit ansehen, wie das Wassermännlein von seinem Stein ins Wasser rutschte, zur Ziege schwamm und sie mit in die Tiefe zog. Weinend liefen die beiden Kinder zum Großvater und erzählten ihm, was passiert war. Er hörte sich die ganze Geschichte schweigend an und meinte dann zu den Enkelkindern: "Ich bin froh, dass nichts Schlimmeres passiert ist. Es wäre ja leicht möglich gewesen, dass das Wassermännlein eines von euch beiden mit in die Tiefe gezogen hätte!"
Quelle: email Zusendung von Gerhard
Thöner