Der hl. Christophorus in der Salvatorgasse in Wien
In der Salvatorgasse, dem Eingange des alten Maigstratsgebäudes gegenüber, steht ein hl. Christophorus. Wenige Wiener wissen, daß dieser kräftige Mann mit dem Stocke in der Hand den hl. Christoph vorstellen soll; viele halten diese Statue für das Bild eines schlichten Bauern.
Der hl. Christophorus und die Eselin, welche Christus bei dem Einzüge
in Jerusalem getragen hatte, gingen einst in die weite Welt, um sich am
Reisen zu erfreuen. Der Zufall wollte, daß beide in Wien in einem
Gasthause auf der Mariahilferstraße zusammenkamen. Die Freude des
unverhofften Wiedersehens in Wien war groß, und beide erzählten
einander, woher sie kamen, wohin sie wollten und was ihnen auf der Reise
alles begegnet sei. Und so gab ein Wort das andere und leider kamen beide
dabei in Streit hinsichtlich der Frage, wessen Verdienst das größere
sei, das des hl. Christophorus, der den Herrn als Jesukindlein getragen,
oder das der Eselin, die Christum als Lehrmeister der Menschheit nach
Jerusalem gebracht hat. Sie konnten sich nicht einigen, und weil keins
nachgab, so wurde der Wortwechsel schärfer und derber; ein spitzes
Wort um das andere flog bald hinüber bald herüber, so daß
endlich dem hl. Christophorus der Geduldfaden riß; flugs holte er
mit der Hand aus und gab der Eselin einen Schlag ans Ohr, daß sie
unter den Tisch fiel. Sie raffte sich aber schnell auf, warf einen zornwütigen
Blick auf den Heiligen, und sagte: So, jetzt verklage ich dich bei dem
Stadtrat - und lief nun, was sie laufen konnte, schnurstracks in die innere
Stadt in den Magistrat. Der hl. Christophorus zögerte auch nicht,
sondern lief der Eselin nach, und als er sah, daß sie in ein Haus
in der Salvatorgasse rannte, so stellte er sich diesem Hause gegenüber
auf und wartete, bis die Eselin wieder herauskäme. Und so steht denn
der hl. Christophorus noch immer an dieser Stelle und wartet der Eselin,
doch diese hat bis heute noch nicht das Magistratsgebäude der Stadt
Wien verlassen.
Quelle: Franz Branky, Veckenstedts Zeitschrift
für Volkskunde 3, 1891, 99 f.
Aus: Will-Erich Peuckert, Ostalpensagen, Berlin 1963, Nr. 85, Seite 46