DIE WANDERNDE MUTTERGOTTES

Im Winter des Jahres 1782 bildete sich auf der Donau in der Nähe des Dorfes Wittau, im Bereich des heutigen 22. Bezirkes, ein mächtiger Eisstoß. Riesige Eisschollen trieben auf dem Strom, prallten mit lautem Knallen aufeinander und türmten sich zu gewaltigen Gebirgen auf. Sehr oft passierte es, daß die einzelnen Eisschollenberge wieder zusammenfroren und die Donau völlig verlegten. Der Eisstoß war bei Floridsdorf entstanden und bewegte sich nun donauabwärts. Die Hütten der Fischer, die nahe am Ufer standen, wurden mitgerissen und auch die Brücken stürzten in den Strom und wurden weggeschwemmt.

Viele Schaulustige, aber auch ängstliche Menschen, die um ihr Leben fürchteten, hatten sich am Ufer versammelt um das Schauspiel zu beobachten. Kräftige Männer mit langen Stangen, die an den Spitzen Eisenhaken hatten, versuchten das Eis in Bewegung zu halten, um eine Stauung der Schollen zu verhindern.

Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge. Ein kleiner Bub hatte auf einer treibenden Eisscholle einen Menschen erspäht. Tatsächlich sahen nun alle eine hochaufgerichtete, ganz ruhig stehende Gestalt auf dem Eis. Die Scholle trieb direkt auf das Dorf Wittau zu und blieb schließlich davor stehen. Nun erkannten die Leute, daß es kein Mensch, sondern eine Marienstatue war, die so unbeweglich auf dem Eis schwamm. Die Männer versuchten an die Statue heranzukommen, um sie zu bergen, aber es war ihnen unmöglich sie zu erreichen und so blieb sie tagelang vor dem Ort bewegungslos stehen, obwohl das Wasser immer weiter anstieg. Die Bewohner von Wittau waren sicher, daß die Marienstatue zum Schutz ihres Dorfes erschienen war.

An einem sonnigen Morgen, als wieder besonders große Eisbrocken am Ort vorbeitrieben, wurde ein Mann gesichtet, der sich schon völlig erschöpft an einer Scholle anklammerte. Er rief verzweifelt um Hilfe, aber die herbeieilenden Bauern konnten ihn nicht erreichen. Da schwamm die Eisscholle, auf der er lag, wie durch ein Wunder in die Richtung der Marienstatue. Mit letzter Kraft ergriff der Mann den herabhängenden Ast eines Kastanienbaumes am Ufer und zog sich selbst vom Eis.

Als der Winter mit seinen Schrecken vorbei war, und die Statue am Ufer der Donau stand, erbaute der Mann zusammen mit den Bewohnern von Wittau eine Kapelle zum Andenken an seine wunderbare Rettung, und die "wandernde Muttergottes" wurde auf dem Altar aufgestellt.

Quelle: Wien in seinen Sagen, Eva Bauer, Weitra 2002, S. 327