DER GOLDENE BRUNNEN
Als die Leopoldstadt noch vor den Stadtmauern Wiens in den sumpfigen Donauauen lag, war die Taborstraße die einzige Verbindung zwischen Norden und Süden. Das älteste Wirtshaus "Zum Goldenen Brunnen", das hier stand, war nie leer, weil viele Kaufleute, Kutscher und Wanderer einkehrten. Der Wirt und seine Frau waren zufrieden und lebten gut von ihren Einnahmen.
Doch eines Tages brach der Krieg aus, Seuchen suchten die Bevölkerung heim und auch die Handelsleute blieben aus. Immer weniger Gäste kamen in das Wirtshaus, und die Besitzer mußten sich sogar Geld leihen, um das Haus nicht zu verlieren.
Als die Lage immer schlimmer wurde, beschieß die gläubige Frau zum Stephansdom zu pilgern um die Mutter Gottes um Hilfe anzuflehen. Im Dom angekommen, kniete sie vor der Marienstatue nieder und sprach ihre Fürbitte. Maria flüsterte ihr zu: "Gehe nach Hause und schöpfe aus dem Hausbrunnen Wasser für die Pferde. Auf dem Boden jedes Eimers wirst du ein Goldstück finden. Entnimm aber dem Brunnen nie mehr Wasser, als die Tiere brauchen."
Die glückliche Wirtin eilte nach Hause und berichtete ihrem Mann von der Prophezeiung. Weil die Pferde gerade getränkt werden mußten, holten sie zwei Eimer Wasser aus dem Brunnen, und wirklich fanden sie die versprochenen Goldstücke auf den Böden der Eimer. Von nun an hatte alle Not ein Ende. Die Wirtsleute konnten nach und nach ihre Schulden begleichen, und auch das Gasthaus wurde erneuert. Nun trug das Haus den Namen "Zum Goldenen Brunnen" zurecht.
Aber wie es in der Natur mancher Menschen liegt, packte den Wirt die Habgier. Er wollte mehr Goldstücke auf einmal haben und so schlich er eines Nachts zum Brunnen und schöpfte einen Eimer Wasser heraus, ohne daß die Pferde ihn benötigten. Er leerte das Wasser achtlos auf den Boden und suchte nach dem Goldstück. Aber es war keines drinnen. Noch einmal ließ er den Eimer in den Brunnen hinunter, doch ein Goldstück war darin nicht zu finden. Traurig dämmerte ihm die Erkenntnis, daß die Goldquelle versiegt war, weil er gegen die Anweisungen der Gottesmutter verstoßen hatte.
Der Wirt beichtete seiner Frau die ruchlose Tat, aber im Grunde genommen
waren sie trotzdem dankbar, daß Maria ihnen in ihrer Güte in
den schlechten Kriegszeiten geholfen hatte, das Gasthaus zu erhalten.