Die edle Dienstmagd

Von Wien meldet man folgendes: Vor einigen Monaten starb hier ein Handwerksmann in sehr unglücklichen Umständen. Er hinterließ nichts als vier unmündige Kinder, die ein Raub des erbärmlichen Elends waren. Die Mutter war schon seit einem halben Jahr tot, und es fand sich niemand, der sich dieser Unglücklichen annehmen wollte. Ihr Zustand erweckte ein sehr rührendes Beispiel in der Geschichte der Menschlichkeit. Die Dienstmagd, welche bei den verstorbenen Eheleuten in Diensten stand und ein Zeuge des Elends dieser Kinder war, entschloß sich, sie vom Hunger zu retten. Sie ergriff das übriggebliebene Werkzeug und setzt, zum Besten dieser Kinder, das Gewerbe nach den Begriffen, die sie während ihrer Dienstzeit von dieser Verrichtung erlernt hat, fort; sie ernährt, wartet und unterrichtet diese Armen mit einer wahren mütterlichen Sorgfalt und Zärtlichkeit; sie hat bereits einige der dringendsten Schulden bezahlt; sie verrichtet zu gleicher Zeit die Pflichten einer Magd, einer Mutter, einer Lehrmeisterin im Christentum mit einem Triebe, der umso rühmlicher ist, als sie binnen fünfzehn Jahren, die sie bei den verstorbenen Eheleuten gedient, nichts von ihrem Lohne empfangen, sondern gänzlich an die Massa (vom Vermögen) zu fordern hat.

Quelle: (Vossische Zeitung, Berlin 1772, Nr. 133.), Buchner, Eberhard, Das Neueste von gestern,5 Bde., München 1911 - 1913, Bd. 3, 1912, Nr. 376