Der daumenlange Hansel
Das Märchen vom daumenlangen Hansel oder vom Däumling ist auch ein Lieblingsthema der Wiener Ammen und Kinderfrauen; darum halten wir es nicht für überflüssig zu bemerken, daß dieses Märchen einen historischen Grund hat und daß der daumenlange Hansel und der Paduaner Professor der Arzneikunde, Fortunatus Licetus, eine und dieselbe Person ist.
Dieser gelehrte Mann war, als er geboren wurde, nicht größer als fünfeinhalb Zoll oder so lang als eine flache Hand. Gleich nach der Geburt untersuchte ihn sein Vater, welcher ein Arzt war, nach allen Erfordernissen der Kunst, und machte den Schluß, daß er doch etwas größer sei, als gewöhnlich ein Embryo zu sein pflege, und ließ ihn lebendig nach Rapallo im Genuesischen bringen, wo er ihn dem Hieronymus Bardi und andern Ärzten des Orts vorzeigte, um ihre Meinung über das außerordentlich kleine Söhnlein zu vernehmen. Allein man fand, daß ihm nichts an der Lebensfähigkeit abging, und sein Vater nahm sich daher vor, eine Probe seiner Kunst an ihm zu machen, und das Werk der Natur selbst zu beendigen.
Er gab sich bei der Pflege und Auferziehung des Kindes alle ersinnliche Mühe und verfuhr dabei ebenso künstlerisch, als man in Ägypten mit dem Ausbrüten der jungen Hühner verfährt. Er nahm eine Amme an und schrieb ihr genau alles vor, wie sie sich zu benehmen und was sie zu beobachten habe; er ließ das Söhnchen in einen besonders dazu verfertigten Ofen setzen und wendete überhaupt so viel Mühe an, daß es ihm gelang, ihn aufzuziehen und ihm das nötige Wachstum zu geben, vermittelst der Gleichförmigkeit der äußern Hitze, die sorgfältig nach dem Steigen und Fallen eines Thermometers eingerichtet war. Man würde immer zufrieden genug gewesen sein, wenn es ein Vater, der so erfahren in dem ganzen Felde der Arzneikunst und Erziehung war, durch seinen angewandten Fleiß so weit gebracht hätte, daß er das Leben seines Söhnchens wenige Monate oder Jahre hätte fristen können. Allein, wenn man weiß, daß das Kind achtzig Jahre lebte und daß es achtzig verschiedene Bücher schrieb, welche alle die Frucht einer großen Belesenheit und einer reifen Urteilskraft waren; so muß man gestehen, daß die Begebenheit wunderbar ist, daß das Unglaubliche nicht allezeit unwahr, und die Wahrscheinlichkeit nicht immer auf der Seite der Wahrheit ist.
Licetus war nicht älter als 19 Jahre, da er ein Buch schrieb, das einen so langen Titel hatte, als er selbst war. Es heißt Conopsychanthropologia oder Von dem Ursprung der menschlichen Seele.
Quelle: Realis (= Gerhard Cockelberghe-Duetzele),
Geschichten, Sagen und Merkwürdigkeiten aus Wiens Vorzeit, Wien 1846,
S. 362 f.