Kaiser Franz Joseph I. nach Errettung aus Mördershand
Kaiser Franz Joseph I. pflegte in den ersten Jahren seiner Regierung,
nachdem er vormittags die Regierungsgeschäfte erledigt hatte, täglich
zwischen zwölf und zwei Uhr mittags auf der Bastei der inneren Stadt
Wien spazierenzugehen. (Damals, wo noch Festungswerke bestanden, hatte
jene Gegend ein ganz anderes Aussehen als heute.) Einen solchen Spaziergang
machte der Kaiser auch am 18. Februar 1853 (im 5. Jahre seiner Regierung)
in Begleitung seines Adjutanten Oberst O'Donell. In der Nähe des
Kärntner Tores stürzte sich plötzlich ein junger Bursche
- es war ein ungarischer Schneidergeselle namens Libenyi - mit einem langen
Messer in der Hand auf den Kaiser und stieß ihm das Messer in den
Nacken. Dieses prallte aber glücklicherweise an der Schnalle der
Halsbinde ab und drang nicht weit in das Fleisch ein. Als der Unhold mit
der spitzigen Mordwaffe neuerdings ausholte, erfaßte der Begleiter
des Kaisers die Hand des Angreifers, wobei ihm ein Wiener Bürger
namens Ettenreich zu Hilfe kam. Der junge Mann wurde festgenommen und
hernach zum Tode verurteilt. Der Kaiser bedurfte fast eines ganzen Monats
zu seiner Heilung. Sobald er das erste Mal das Zimmer verlassen konnte,
begab er sich sogleich in den Stephansdom, um dem lieben Gott für
die Lebensrettung zu danken. Zur dankbaren Erinnerung an die Lebensrettung
des Kaisers wurde die prachtvolle Votivkirche gebaut, die nach 25 Jahren
fertig war und am Tage der silbernen Hochzeit des Kaiserpaares (24. April
1879) vom Wiener Fürsterzbischofunter Assistenz von 49 Bischöfen
eingeweiht wurde. Als man zum Baue dieser Kirche Geld sammelte, wurden
bereits am ersten Tage von den Wienern allein 400000 Gulden gespendet.
Gegen seinen Wohltäter erwies sich der Kaiser dankbar; er erhob O'Donell
in den Grafenstand. Noch einige edle Züge des Monarchen und seiner
Mutter der Erzherzogin Sophie seien hier erwähnt: Als der Kaiser
verwundet war, bat er, ja nur seiner Mutter nichts zu sagen; er dachte
also nicht so sehr an seine Lebensgefahr, als vielmehr an den Kummer seiner
Mutter. Da ferner bekannt wurde, daß die Mutter des Ruchlosen wegen
des Verbrechens ihres Sohnes ihr Brot verloren habe, so ließ ihr
der Kaiser eine Pension bewilligen. Und die Mutter des Kaisers stiftete
für den Hingerichteten eine heilige Messe; sie begründete ihre
Handlung damit, daß sich kaum jemand finden dürfte, der der
Seele des Unglücklichen im Gebete gedenken werde. So hat die kaiserliche
Familie durch ihre Herzensgüte tatsächlich glühende Kohlen
auf das Haupt ihres Feindes gelegt.
Quelle: Spirago, Franz, Beispiel-Sammlung für das christliche Volk, Prag 1918, Nr. 1238