Der Sieveringer Sagenkreis um Karl und Agnes

I. [Version]
Da, wo heute Sievering liegt, lebte einst eine Fee namens Agnes. Im Winter hielt sie sich in einem Palaste auf, dessen Eingang bei der steinernen Wand außerhalb Sieverings, am Fuße des "Himmels", gewesen sein soll. Im Sommer aber schlief sie oft unter freiem Himmel oder hielt sich in hohen Bäumen auf. Einst kam der König von Schweden in diese Gegend, um einer großen Jagd beizuwohnen. Als er ein Reh verfolgte, verirrte er sich bis auf die hochliegende Jägerwiese. Der Gang hatte ihn ermüdet und so zog er im Walde seinen Harnisch aus und hängte ihn an einen Baum; dann legte er sich im Gras nieder, um die Nacht hier zuzubringen. Kaum war er eingeschlafen, so hörte er seinen Namen rufen: "Karl, schläfst du?" Erstaunt sah er an seiner Seite eine wunderliebe Frau und nicht weit davon hörte er eine Quelle hervorsprudeln. Agnes blieb bei dem Jäger und zeigte ihm dann bei Tagesanbruch den Weg zu seinen Gefährten. Seit dieser Zeit ist der König von Schweden nie mehr in jener Gegend gesehen worden; manchmal aber hört man Lärm in den Gebirgen, ein Rollen und Rasseln, und dann sagen die Leute, Karl fahre mit seinen geflügelten Rossen. Die Quelle aber, an der beide saßen, heißt seit jener Zeit das "Agnesbründl".

Einige Zeit nach dieser Begebenheit gebar die Fee ein Mädchen; sie wußte aber nicht, wo sie das Kind unterbringen sollte. Da fiel ihr ein, daß in der Nähe ein Köhler wohne, der täglich aus einem Brunnen im Walde das Wasser hole. Sie legte deshalb das Kind in einen Korb und wickelte in ein Papier zwanzig Goldstücke. Darauf schrieb sie: "Das Kind heißt Agnes. Nehmt es an und zieht es auf, und alle 14 Tage sollt Ihr an dieser Stelle das nötige Geld finden." Als der Köhler das Kind so allein da liegen sah, erbarmte er sich und trug es nach Hause. Die Köhlerin wollte anfangs nicht einwilligen, als sie aber den Zettel las und das Gold darin fand, freute sie sich über das Begebnis. Die Köhlersleute hatten einen Knaben, der Karl hieß, und beide Kinder wuchsen nun nebeneinander auf, und mit den Jahren wuchs auch ihre Liebe zueinander.

Die Fee sah dieses Verhältnis gern und wollte den künftigen Gemahl ihrer Tochter zu hohen Ehren bringen. Sie befahl ihm daher, auf die Jägerwiese zu gehen; dort werde er einen Harnisch finden, den der Schwedenkönig an einen Baum gehängt habe. Den Harnisch solle er umlegen und so gerüstet in das Lager der Türken ziehen, deren Vorposten niederhauen und ihren Obersten zum Zweikampfe auffordern. Er solle auch trachten, den Helm des Türkenführers zu bekommen, da darin dessen schriftliche Befehle und Nachrichten aufbewahrt seien.
Karl nahm Abschied von Agnes, begab sich in das Türkenlager und tat alles, wie ihm die Fee geraten hatte. Alsdann eilte er mit guten Nachrichten nach Wien, und der Kaiser verlieh ihm eine hohe Stelle im österreichischen Heere. Unterdessen hatte die Fee ihrer Tochter einen Palast bei Sievering errichtet. Karl hatte aber in Wien eine andere Bekanntschaft ("mit einer Hofdame") gemacht, und als er einst in den Wald kam, um die Seinigen zu besuchen, leugnete er es. Da öffnete sich die Erde und mit furchtbarem Getöse sank der Palast in den Abgrund. Agnes und Karl aber sind verwunschen, umherzuwandeln bis zum Jüngsten Tage, und zwar er in Schuld, sie in Unschuld. Täglich erscheint auf der Jägerwiese ein geharnischter schwarzer Mann, der um 12 Uhr mittags und 12 Uhr nachts aus einem Baum herabsteigt. Andere haben ihn in anderer Gestalt gesehen.

Quelle: Die Sagen und Legenden der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 6, S. 7f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Anja Christina Hautzinger, April 2005.