Der Sieveringer Sagenkreis um Karl und Agnes

IV. [Version]

Ein alter Köhler, der einen Baum fällen wollte, verschonte ihn darum, weil er noch so schön war. Da trat eine weißgekleidete Frau zu ihm und sagte:

"Weil du mich verschont hast, so will ich dir dankbar sein. Geh jetzt nach Hause und was dir Sonderbares auf dem Wege begegnet, das nimm mit!"

Darauf verschwand die weiße Frau, und kaum war er zehn Schritte gegangen, so vernahm er im Gebüsch das Schreien eines Kindes. Er nahm dieses mit und eilte nach Hause. In der Nacht erschien ihm im Traum die weiße Frau und beschied ihn zu jenem Baume im Walde. Da die Frau des Köhlers denselben Traum hatte, so machten sich beide des Morgens auf den Weg und nahmen das Kind samt ihrem Karl mit. Dort erfuhren sie von der weißen Frau, daß das Kind Agnes heiße; sie bat sie, man möge es sorgfältig erziehen, dann werde es ihr Glück sein.

Als Karl erwachsen war, erschien ihm die weiße Frau und sagte:


"Mein Karl, du mußt nach Wien, und zwar morgen schon; die Stadt ist belagert, und du sollst zu ihrer Rettung beitragen!"

Dann übergab sie ihm ein Pferd. Schwert und Rüstung. Als er auf Wien zuritt, begegneten ihm 300 andere Reiter, die er mit sich nahm. Nach vielen ritterlichen Taten kehrten sie nach Sievering zurück, doch vor dem Dorfe verschwanden plötzlich seine Gefährten. Karl ritt in den Wald und legte Schwert und Rüstung bei dem Baume nieder; sein Pferd aber verschwand.

Wenn man sich auf der Agneswiese auf das rechte Ohr legt, so hört man die 300 Ritter, von Karl befehligt, üben. Der Baum ist vom Blitz vernichtet worden, er stand in der kleinen Grube, die jetzt das Brünndl bildet. Auf den Steinchen darin oder auch im Schlamme sieht man Nummern; diese bringen Glück in der Lotterie. Hat man das Glück, die Agnes zu sehen und zu sprechen, so kann man freilich die sichersten Treffnummern erfahren.

Quelle: Die Sagen und Legenden der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 6, S.10f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Anja Christina Hautzinger, April 2005.