Der hl. Capistran und der Bettlerkönig
Unter den großen Volksmassen, die auf dem
Wege, den der hl. Capistran nach dem Kloster St. Theobald auf der Laimgrube
nahm, sich um ihn drängten, befanden sich auch viele aus der Bettlerzunft.
Der Heilige richtete Blicke des innigsten Mitleids nach allen Seiten hin
und streckte über diese Unglücklichen, Verworfenen und Gesunkenen,
auf deren Gesichtern aller Jammer, alles Elend und auch alle Lasterhaftigkeit
der Menschheit in furchtbarer Weise ausgeprägt waren, die Hand segnend
aus, und diesem Akte wahrhaft christlicher Liebe folgte ein seltsames
Gemenge von Ausrufen, Schluchzen, Kindergeschrei, flehenden Bitten, Gekreisch
und Geheul. Hierauf suchte der größte Teil dieser Elenden seinen
Wohnsitz in den Höhlen der Kotlucke auf, die jüngsten und frechsten
derselben aber begaben sich mit ihren liederlichen Gesellinnen nach der
Lieblingsschenke auf der Bettlerstiege.
Wahrend sich ein starkes Gewitter über der Stadt entlud, zechten
und tollten die Bettlergenossen in übermütiger Weise, und endlich
fiel es dem Anführer der Sippe ein, in einem frechen Spottliede den
Kreuzprediger Capistran zu verhöhnen. Schon hatte er einige derartige
Schnurren losgelassen und wollte eben eine neue beginnen, als ein betäubender
Donnerschlag das Haus erbeben machte. Der Blitz hatte in die Bettlerherberge
eingeschlagen, und sämtliche Insassen brachen unter angstvollem Geschrei
zusammen. Nur der "Bettlerkönig" saß in seinem Lehnstuhle
fest, die Stirne aufrecht, gleich wie fragend, forschenden Blickes. Aber
er fragte niemals wieder und sein Auge forschte niemals mehr; er war und
blieb - blind, taub und stumm.
Quelle: Die Sagen und Legenden
der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 68, S.
85ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von
Anja Christina Hautzinger, Mai 2005.