Der Geist im Weinkeller

Bacchus, der verführerische Weingeist, hat es bewirkt, daß Alexander Jurman, der vor vielen Jahren Propsteiverwalter zu St. Stephan war, eine schlechte Hoffnung auf die ewige Seligkeit hinterlassen hat, denn der zu kräftige Zuspruch zu den edlen Gaben der Weingebirge um Wien war es, daß er allzufrüh vom Leben lassen mußte. Als die Herren Canonici ihm zu Gedenken betrübt den dreißigsten Psalm bei St. Stephan anstimmten, geschah es, daß einer aus ihrer Mitte, auch ein durstiger Bruder, zu etwelcher Stärkung in den Propsteikeller hinabstieg, und siehe da, er konnte zu seinem Schrecken seinen Augen nicht trauen, da gewahrte er den verstorbenen Propst Alexander, dem man eben das Requiem hielt, wie er von Faß zu Faß ging und nach dem Besten Ausschau hielt und sich gütlich tat. Da verging dem Canonicus der Durst und spornstreichs rannte er zu seinen psalmierenden Mitbrüdern hinauf und rief ihnen zu: "Ihr Herren Canonici, was besingt ihr groß den Propst Alexander? Er säuft und ist lustig in seinem Gewölbkeller unter der Erden, und ihr psalmiert für ihn, daß euch der Durst möchte umbringen." Ob aber der weinselige Geist des Propstes Alexander, der sein Requiem so fröhlich lästerlich beging, nachmals zur Ruhe kam, davon vermerkt die Sage nichts mehr.

Quelle: Die Sagen und Legenden der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 56, S. 76
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Anja Christina Hautzinger, April 2005.