Die Gnade Gottes auf dem Kahlenberg
Vor Zeiten kam ein frommer Bergmann ins Kahlengebirge und fing an, nach Erzen zu graben. Er plagte sich wochenlang, doch fand er nur lauter Gestein. Weil er aber fest auf die Gnade Gottes baute, so ließ er sich die saure Arbeit nicht verdrießen. Da bemerkte er einen Vogel, der immer zu einer bestimmten Stelle flog. Er folgte ihm und fand dort ein leeres Nest. Er hielt dies für ein gutes Zeichen der Gnade Gottes, fing dort zu graben an und stieß wirklich auf richtiges Erz und fand so viel davon, daß er ein reicher Mann wurde.
Jetzt kamen von allen Seiten Bergleute herbei, fanden bei ihm Arbeit und bauten ein Haus neben dem andern, bis zuletzt ein Dorf dastand; das bekam den Namen Kahlenbergerdorf.
Nach dem Tode des frommen Bergmannes kam das Bergwerk an einen hartherzigen Mann, der seine Bergleute aufs ärgste bedrückte. Als er eines Tages im Wirtshaus saß, kam die Rede auf seinen Vorgänger; da sagte ein alter Arbeiter: "Der hat es nur durch die Gnade Gottes so weit gebracht, weil er so fest darauf gebaut hat."
Nun wurde der Werkherr zornig und rief: "Gnad' hin, Gnad' her! Wär' kein Erz im Berg gewesen, so hätt' er auch keines gefunden!"
Als die Bergleute am nächsten Tag an die Arbeit gingen, da fanden
sie kein Äderchen Erz. Darüber war der stolze Grubenherr wie
vom Donner gerührt; er schlug sich verzweifelt vor das Gesicht und
rief: "So war wirklich die Gnade Gottes dabei, und ich habe sie sündlich
verlästert!" Wie reuig er sich auch zeigte und wie fleißig
man auch suchte, so fand sich doch kein Erz mehr im Berg.
Quelle: Die Sagen und Legenden
der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 44, S.
65f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von
Anja Christina Hautzinger, April 2005.