Die Muttergottes zu St. Lorenz in Wien
In dem wohlehrwürdigen Frauenkloster zu St. Lorenz in Wien, berichtet eine alte Handschrift, befand sich ein Bildnis Mariä, "welches nicht gar Ellen hoch, aus Holz geschnitzt und mit mancherlei Farben geschmückt ist, daselbst in einem Sessel sitzend den Urheber aller Gnaden, Jesum ihr Söhnlein, auf ihrem Schöße hält. Das Haupt der Mutter ist mit einem weißen Häublein bedeckt, die beiderseits über den Hals auf die Brust herabfließenden Haare sind in Zöpfen geflochten. Das Jesuskind ist ohne Häublein, mit ausgestreckten Händlein, über die linke Achsel und um die Mitte des Leibes mit einer Binde gebunden".
Von diesem Bildnis wurde durch mehr denn anderthalb hundert Jahre her beständig im Stift bei St. Lorenz einhellig erzählt. Alle redeten aus dem Munde ihrer Vorfahren, daß es auf ihrem Chore so lange andächtig verehrt worden sei, bis jener unglückliche Tag angebrochen, an welchem von den grausam wütenden Feuersflammen das Gotteshaus und Frauenstift ergriffen wurde. Alle waren damals beflissen, was sie konnten dem verzehrenden Feuer zu entreißen, doch niemand war eingedenk, das Marianische Bild in Sicherheit zu bringen. Es ist solches demnach von den Flammen ergriffen worden, daß es außer den Fußsohlen des Kindleins und der über die Füße der Mutter abhängenden Kleidung also unverletzt geblieben, daß es sogar von dem Feuerrauche nicht entstellt worden ist. Von wem solches aber auf die Schneckenstiege unweit des Zimmers der Frau Oberin aus dem Chor übertragen und daselbst niedergesetzt worden sei, wo sie von einer Chorfrau solle ersehen worden sein, wußte niemand zu sagen. Dies wurde wohl beständig und einhellig von den Chorfrauen erzählt, daß dieses Bildnis jene Chorfrau, von welcher selbes erblickt worden, dem Vorgeben nach auf der Schneckenstiege mit diesen Worten solle angeredet haben: Tochter! alles sucht man zu retten, nur mich nicht; worauf dieselbe das Bild auf ihre Arme genommen und in vollkommene Sicherheit gebracht habe. Nach gedämpfter Feuersbrunst war man gleich beflissen, die von selber verletzten Teile des Bildnisses von dem Kohlenruß zu säubern; aber vergebens. Von dieser Zeit an wurde ihr ein Kleid angetan, und sie kam in solchem als aufrechtstehend zu Gesichte. Nunmehr aber ist Maria in diesem Bilde als eine besondere Beschützerin in verschiedenen Feuersbrünsten befunden worden; denn die Erfahrung hat es öfter gelehrt, daß, wenn das Feuer schon zum Dache ausgebrannt, wenn dieses Bildnis entgegengehalten wurde und man das heilige Kreuzzeichen darüber gemacht hat, die Flammen sich nicht nur allein augenblicklich geschwächt gezeigt, sondern auch nach und nach gänzlich erloschen seien. Diese Wohltat war einer gewissen wienerischen Vorstadt zu Teil geworden, in welcher bei hellem Tage eine schädliche Feuersbrunst entstanden war. Sobald man dieses Marianische Bildnis von einem hohen Orte des Stiftes bei St. Lorenz entgegen gehalten, die Lauretanische Litanei durch die Chorfrauen vor denselben gebetet und jenes weiße Häublein welches man dem Bildnis auf das Haupt zu legen pflegte, durch einen Klosterbediensteten hinausgeschickt und in die Mitte der wütenden Brunst geworfen worden, so sind die Flammen nicht nur gleich schwächer geworden, sondern gar bald gänzlich erloschen, das Häublein aber ist bei der Wegräumung des Schuttes unverletzt und so weiß befunden worden, als wenn es niemals in Mitte der Flammen gewesen wäre.
Wieder ein andermal, als eben die Chorfrauen bei dem Mittagsmahl versammelt
saßen, brach gähe auf dem Chore, der damals mit einer eisernen
Tür verschlossen war, ein Feuer aus. Sobald die Chorfrauen hörten,
daß aus dem Chore eine Feuersbrunst entstanden, eilten sie sogleich,
ihr liebes Marienbild zu retten; sie fanden dasselbe aber bei verschlossener
Tür auf dem letzten Staffel vor derselben stehend und das Feuer schon
ausgeloschen, als wenn sich Maria an ihrem Bildnis von den Flammen nicht
mehr berühren lassen wollte.
Quelle: Die Sagen und Legenden
der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 76, S.
93ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von
Anja Christina Hautzinger, Mai 2005.