Bei den Schotten am Steine
Während auf dem alten Kornmarkte, dem gegenwärtigen Neuen Markte,
ein starkes Gedränge vor einem nach Pisa reisenden Harfner stattfand,
schritt ein armer Pilger auf dem Steinfelde - gegenwärtig die Teinfaltstraße
- dem nahe am Stadttore gelegenen Schottenkloster zu.
Der tief in die Augen gedrückte Hut, das lange ungekämmte Haar,
die bleichen eingefallenen Wangen verkündeten schweres Leiden.
Der Harfner war nicht minder gramerfüllt anzusehen. Er sang Buß- und Klaglieder von Albrechts I. Tod, und rührend war die Trauer der Menge und die Entrüstung zu sehen gegen den achtzehnjährigen Neffen, Johann von Österreich, der sein väterliches Erbe, das Herzogtum Schwaben, fordernd, den kaiserlichen Vormund und Oheim ermordet hatte, weil er nicht augenblicklich in den Besitz desselben gesetzt wurde.
"Einmal noch", sprach der Pilger tiefseufzend zu sich selbst, sich auf dem Ruhestein vor dem Schottenmünster niederlassend, "einmal noch, ehe ich die deutsche Erde verlasse, muß ich in deinem Innern mich ergehen, freundliche Wiege meiner Kinderjahre! Deine Laufgräben sind Liebe und Treue. Deine Mauern der Gehorsam. In deinen Straßen bewegen sich Fleiß und Fröhlichkeit. Darf die Neue es wagen, deine Tore zu betreten, die nur der Bescheidenheit, der Demut, der Geduld und den Künsten des Friedens geöffnet find?"
Er hatte die letzten Worte kaum gesprochen, als ein Herold an dem Tore der Freiung erschien und dem herbeiströmenden Volke mit lauter Stimme verkündete, daß Friedrich der Schöne, Alberts tiefbetrübter Sohn und Nachfolger, für den nächsten Tag die Huldigung der gemeinen Landschaft zu empfangen und solche nach althergebrachter Weise des Eides zu entbinden willens sei, weil ihr Betragen gegen seine erhabenen Vorfahren jederzeit von der Art gewesen, als ob sie den Eid wirklich abgelegt hätten.
Bei dem lauten Jubelrufe des Volkes fuhr der Pilger erschüttert vom Steine empor und würde zur Erde gesunken sein, wenn nicht ein eben vorbeieilender Knappe ihn aufgefangen hätte. Doch als er dem Pilger den Hut lüften wollte und Herzog Johannes', des Mörders, Antlitz ihm entgegenstarrte, ließ er ihn auf den Stein sinken und eilte dem Stadttor zu.
Der Ruf von der Anwesenheit des Mörders verbreitete sich schnell, doch als viele Neugierige mit der Wache herbeiströmten, war der Pilger bereits verschwunden. Da rief einer aus der Menge: "Nicht hier, auf dem Kornmarkte werdet ihr ihn finden als Harfner verkleidet" und die Menge wogte nun dem Kornmarkte zu, von wo der Harfner sich ebenfalls bereits entfernt hatte.
Da beide trotz alles Nachsuchens nicht aufgefunden werden konnten, herrschte
lange Zeit die Meinung, daß man sie absichtlich habe entkommen lassen.
Wer aber eine verlorene Sache nicht auffinden konnte, dem wurde seit diesem
spottweise zugerufen, daß sie bei den Schotten auf dem Steine zu
finden sei.
Quelle: Die Sagen und Legenden
der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 124, S.
132f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von
Anja Christina Hautzinger, April 2005.