Die Spinnerin am Kreuz
6. Fassung
Ein Müller, Spiner mit Namen, stand nahe beim Hochgericht auf dem
Wienerberg, das sich unweit der Stelle erhob, wo jetzt die "Spinnerin
am Kreuz" erhöht ist, und drängte sich in die vordersten
Reihen des Volkes, das einen Dieb henken sehen wollte. Der arme Sünder
stand schon auf der Leiter, da hörte er ganz deutlich, daß
der Müller die Worte sprach: "Ich möchte wohl wissen, wie
dem dort alleweile zu Mute ist!" Schon legte Meister Hämmerling
die Schlinge um des Diebes Hals, als dieser schrie: "Halt! Ich habe
noch etwas zu bekennen! Ich habe noch einen Mitschuldigen!" Alles
horchte auf und lauschte voller Erwartung der ferneren Rede. "Der
dort ist's!" fuhr der Dieb fort, hindeute auf den erschrockenen Müller,
den alsobald die Schergen und Henkersknechte anfaßten. Vergebens
beteuerte er seine Unschuld. Die Hinrichtung wurde aufgeschoben und der
Müller mit seinem Ankläger zum Gefängnis gebracht. Letzterer
blieb bei seiner Aussage, und da man vor alters immer sehr kurze Prozesse
zu machen pflegte, so sprachen die Richter das althergebrachte "Mitgegangen,
mitgehangen" aus, und daß der Müller vor dem Diebe gehenkt
werden sollte.
Schon legte Meister Hämmerling die Schlinge um des Müllers
Hals, als der Ankläger ausrief: "Halt! Ich habe noch etwas zu
bekennen!" Alles horchte hoch auf und lauschte wieder voller Erwartung
der ferneren Rede. Da wandte sich der Dieb gegen den in Todesangst zitternden
Müller und fragte ihn: "Weißt du nun, wie einem zu Mute
ist auf der Galgenleiter?", und zu den Richtern gewandt, sprach er:
"Dieser Mann ist unschuldig! Da aber sein Fürwitz darnach verlangte,
zu wissen wie einem sei, der auf dieser Himmelsleiter steht, so hab' ich
ihm zur Lehre und mir zur Lust den Spaß gemacht. Denke, er wird
sein Lebetag nicht mehr hier herauf verlangen!" Der alsobald freigesprochene
Müller fiel auf sein Angesicht, lobte Gott für die Offenbarung
seiner Unschuld und gelobte zu ewigem Gedächtnis seiner Rettung von
dem gewissen schmählichen Tode dankbar die Errichtung einer Kreuzessäule.
Dieses Gelübde hielt er, und so entstand die Denksäule, die
man nach ihm das Spinerkreuz nannte, daraus allmählich die jetzt
übliche Benennung geworden sein soll.
Quelle: Die Sagen und Legenden
der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 130, S.
137f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von
Anja Christina Hautzinger, Mai 2005.