Der Stock im Eisen
2. Fassung
Ein armer Schlosserlehrling entwendete seinem Meister einen überaus
künstlichen Nagel, der bei dem Bau eines Jagdschlosses Leopolds des
Heiligen verwendet werden sollte, das im Wienerwald errichtet wurde. Bei
der Heimkehr verirrte er sich im Walddickicht.
Im Walde stand ein besonderer Baum, zu dem der Verirrte immer wieder gelangte,
so daß er endlich ganz erschöpft und weinend unter diesem auf
das weiche Moos sank, und da wurde er inne, daß er sich eines großen
Fehlers durch den Diebstahl schuldig gemacht, schämte sich aber doch,
sein Verbrechen einzugestehen, wollte jedoch auch den Nagel nicht behalten
und schlug ihn in den Baum. Und wie er den Nagel in den Baum geschlagen
hatte, so stand der böse Feind neben ihm und sprach: "Den gestohlenen
Nagel kannst du wohl einschlagen; könntest du aber einen solchen
Nagel und ein Schloß machen, das diesen Baum vor Art und Säge
schützte, so wäre dir geholfen."
Der Junge erschrak zwar sehr, doch faßte er frischen Mut und sprach:
"Ich habe des wohl Lust und Mut, solch Schloß fertigen zu lernen,
so ihr mich's lehren wollt und könnt."
Der Teufel sagte: "Topp!" und ließ den Jungen mit sich
gehen, der nun einen Bund mit ihm einging und von ihm Lehre und Unterweisung
erhielt, so künstliche Schlösser zu verfertigen wie niemand
in der Welt. Diese Schlösser vermochte kein anderer Meister zu öffnen,
und so verdiente der junge Meister viel Gut und Geld und wurde ein reicher
und angesehener Mann. Neben jenem Nagel schlug er einen ganz gleichen
ein zum Zeichen, daß er seinem Meister gleich sei an Kunstfertigkeit,
und umgab den Baum, dessen oberen Teil er absägte, so daß nur
noch ein Stück dastand, mit einem starken Eisenring, hing auch ein
Schloß daran, das kein Mensch zu öffnen vermochte, und lebte
herrlich und in Freuden.
So kam endlich die Zeit, daß der Pakt um war, den der Schlosser
mit dem Bösen geschlossen, und dieser gedachte, ihn zu holen. Jedoch
der Schlosser hatte längst bereut, sich mit dem bösen Feinde
eingelassen zu haben, und ging jeden Morgen in die Kirche, eine Messe
zu hören. Die Kraft der Messe aber schützte den Frommen je vierundzwanzig
Stunden lang, das wußte er gar wohl, und deshalb hörte er sie
täglich, und der Böse, der auf ihn lauerte, konnte ihm nichts
anhaben. Eines Tages ging er in einen Keller auf St. Peters Platze, allda
vor Anfang der Kirche ein Glas Wein zum Morgenimbiß, zu trinken,
und verspätete sich etwas. Als er endlich doch zur Kirche schritt,
begegnete ihm ein altes Weib, das rief ihm zu: "Zu spät! Zu
spät! Die heilige Messe ist schon gelesen!" Da ließ sich
der Schlosser betören, kehrte um und ging wieder in den Keller, noch
ein Glas Wein zu trinken, kaum aber setzte er den Becher an die Lippen,
so trat das alte Weib von vorhin, das niemand anderer als der Teufel war,
auch ein, faßte und würgte ihn, drehte ihm den Hals um und
hing ihn an einen Haken an der Wand.
Nachher kamen gar viele geschickte Schlosser und probierten, das Schloß
zu öffnen, doch vergebens, und als später Wien sich immer mehr
ausbaute und vergrößerte, ließ man den Stock im Eisen
zum Wahrzeichen stehen, daß bis in diese Gegend sich der Wienerwald
vor Zeiten erstreckte, und jeder wandernde Schlossergesell schlug einen
Nagel hinein, so daß er voller Nägel wurde.
Quelle: Die Sagen und Legenden
der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 23, S.
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Für SAGEN.at korrekturgelesen von
Anja Christina Hautzinger, April 2005.