Das Wassermännchen
I.
Bei den Bewohnern des Magdalenengrundes in Wien geht die Sage, daß
im Wasser des Wienflusses seit langer Zeit ein Wassermännchen hause.
Es soll von kleiner, etwas krummer Gestalt sein, tiefe Augenhöhlen
und ein sehr blasses Gesicht haben. Es trägt einen grauen Rock, von
dem beständig Wasser herabträufelt, einen grünen Hut mit
einem schwarzen Bande und rote Röhrenstiefel mit roten Quasten. Sein
Haupthaar reicht bis zur Erde. Abends bei feuchtem Wetter läßt
es sich öfters mit zur Erde gesenkten Blicken auf den Brettern der
Wehre sehen. Es lockt die Menschen durch beständiges Winken in seine
Nähe. Ist ihm einer nahe genug, so ergreift es eine günstige
Gelegenheit, um ihn in seine Gewalt zu bringen. So lange das Männchen
da ist, kann das Wasser nicht austrocknen, noch dessen Tiefe erforscht
werden. Selbst im Jahre 1834, als Wiens Vorstädte Mangel an Wasser
hatten, soll man den begehrten Stoff von hier in großer Menge weggeführt
haben. Das Wassermännchen hat daselbst mehrere Gemächer, in
welchen es wohnt und die Seelen der Unglücklichen aufbewahrt. Tieren,
zum Beispiel Pferden, Ochsen, Schweinen, die zur Schwemme getrieben werden,
tut es nichts zuleide. So soll es hier schon seit langer Zeit herrschen
und jährlich wenigstens ein Opfer verlangen.
Vor Jahren geschah folgendes:
Ein junger, mutwilliger Mensch, der nicht schwimmen konnte, band sich
mehrere Ochsenblasen um den Leib und wagte sich mit diesen, im festen
Vertrauen, nicht untergehen zu können, in die Nähe der gefährlichen
Stelle. Es dauerte nicht lange, als man ihn wanken und bald auch untersinken
sah. Man sagt, das Wassermännchen habe sein Opfer in seine Nähe
gelockt und eine der Blasen abgelöst.
Ein Knabe erzählte: Einmal hätte mein Bruder fast ein ähnliches
Schicksal gehabt. Es war im Herbst und der Wienfluß war angeschwollen.
Wir gingen mit mehreren Kameraden an sein Ufer, um das von der Wehre herabgeschwemmte
Holz aufzufangen. Schon im Begriffe nach Hause zu gehen, sah mein Bruder
eine schöne Gerte daherschwimmen. Er eilte den kleinen Abhang hinab
und wollte die Gerte mittels einer Stange an sich ziehen. Da sie zu kurz
war, neigte er sich vor, aber unter seinen Füßen löste
sich der Stein, auf dem er stand, und er stürzte ins Wasser. Wir
bemerkten dies nicht. Erst auf den Ruf eines kleinen Mädchens: "Schauts
den an, er schwimmt!" sahen wir den Händeringenden und es gelang
uns, ihn wieder ans Ufer zu ziehen. Das Wassermännchen hatte ihn
durch die Gerte gelockt und dann den Stein unter seinen Füßen
losgemacht.
II.
In den Ortschaften nächst der ehemaligen "Linie" erzählt
man: Das Wassermännchen bewohnt die Stelle der ehemaligen Wehre abwärts
von der Schönbrunner Brücke, wo ein Schleusenhäuschen steht.
Seine Kleidung besteht aus einem grauen Rock mir blauen Knöpfen und
gelben Beinkleidern. Seine Haare sind grün, glänzend und beständig
naß. Den Tag über schläft es in seinen unterirdischen
Gemächern, über die das Wasser rieselt. Nach dem Gebetläuten
kommt es hervor und lauert. Gerät nun ein Mensch in seinen Bereich,
so zieht es behende einen goldenen Kamm aus der linken Rocktasche und
kämmt sich die Haare. Hat es dies getan, so ist gemeiniglich der
Mensch schon verloren, und nur durch schnelle Geistesgegenwart gelingt
es ihm, sich zu retten. Springt er nämlich über die Wagengeleise,
so hat das Wassermännchen keine Macht mehr über ihn und zornig
taucht es unter, daß die Wellen über ihn zusammenspritzen.
Ein Kürschnermeister von Gaudenzdorf, der weit umher als der beste
Schwimmer bekannt war, ging mit seinen zwei Gesellen nach dem Ave Maria
an die Wien hinab, um zu baden. Er war der erste im Wasser und zeigte
seinen Gesellen, die sich noch nicht ausgezogen hatten, allerlei Schwimmkünste.
Auf einmal packte ihn das Wassermännchen beim Fuß und ersäufte
ihn im Wasser. Die Gesellen entflohen, ihre Kleider im Stich lassend,
und erzählten das traurige Ereignis.
Quelle: Die Sagen und Legenden
der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 3, S.
3ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von
Anja Christina Hautzinger, April 2005.