Die weiße Frau in Hernals
Der Weinhüter der Gemeinde Hernals namens Christian Sündbock
lebte mit seiner Frau und einem allerliebsten Mädchen Adelgunde in
einem kleinen Anwesen am Ufer der Als. Die Gundl war nicht von der Art
der gewöhnlichen Dirnen im Dorfe, sondern hatte etwas Hoheitsvolles
und Vornehmes an sich, und man behauptete, daß sie nicht die leibliche
Tochter des Ehepaares Sündbock wäre. Als sie zu einer prächtigen
Jungfrau herangewachsen war, fiel ihre Wahl auf den Schulgehilfen Peter
Reimandl, der von Wien nach Hernals versetzt worden war. Oft saßen
die beiden im Garten und plauderten vom künftigen Glück. Eines
Abends richtete Reimandl an seine Braut die Frage: "Wenn du nicht
sein solltest, was du bist, wenn du in Samt und Seide dahergehen solltest
und an deiner Seite Läufer und Lakaien, wirst du auch dann deinen
Peter lieben?"
"Wie kommst du auf so seltsame Gedanken?" erwiderte Gundl. Allein
Peter, der schon über des Mädchens Herkunft Bescheid wußte,
drang weiter in die Braut: "Ich hab's erträumt, daß du
ein Edelfräulein bist. Laß mir meine Mucken und sag, ob du
mich, den armen Gehilfen, auch dann noch lieben wirst?"
Da schwur Gundl feierlich: "Ob Samt und Seide meinen Leib bedecken werden, ich halte zu dir, wie ich zu meinem Gott halte, und eher sollen am Karfreitag die Glocken läuten, als daß ich von dir lasse."
Nach einigen Tagen hielt vor dem Tore des Weinhüters ein Wagen; ein vornehmer Herr, von zwei Dienern begleitet, entstieg ihm und trat sodann in die Stube Sündbocks. Es war der Graf von Stolzenberg, der um sein Kind, die Gundl, kam. Das Mädchen aber liebte seine Zieheltern viel zu sehr, umklammerte die Mutter und sagte: "Die rechten Eltern seid ihr. Ich bleibe da!"
"Das wirst du nicht tun", rief der Graf, "wisse, daß es in meiner Macht steht, dich mit Gewalt von hier wegzubringen, denn du bist die Tochter des Grafen von Stolzenberg!"
"Ich bleibe da!" wiederholte Gundl. "Eher wird am Karfreitag
die Glocke läuten, als daß ich meine teuren Eltern hier lasse."
Nach einer Besprechung mit den Leuten beschloß der Graf, seine Tochter
noch bis Ostern dazulassen, damit sie sich mit dem Gedanken an ihre Abkunft
erst befreunde.
Die düstere Karwoche brach an. Traurig saß Gundl im Zimmer, während Reimandl in der Kirche und Gemeinde sehr beschäftigt war und nicht abkommen konnte. Sie sah ihn wohl am Gründonnerstag auf dem Kirchenchor, am Abend verließ sie das Haus und wurde nicht mehr gesehen.
Es war kurz vor Mitternacht am Karfreitag, da begann plötzlich die Glocke von St. Bartholomä zu läuten. Die Hernalser stürzten vor Schrecken aus den Häusern, der Kirche zu. Der Mesner stürmte den Turm hinan, da sah er eine weiße Gestalt die Stränge ziehen. Als die Glocke zwölf schlug, verschwand die Erscheinung. Am Ostersonntag aber wurde bei der Sankt-Johanneskapelle in Siechenals die Leiche eines Mädchens angeschwemmt. Es war Adelgunde.
Seitdem wurden in der Nacht des Karfreitags alljährlich vom Turm
der Bartholomäuskirche drei Glockenschläge gehört. Erst
als man die alte Kirche abtrug, verschwand der Spuk. Peter Reimandl aber
lief vom Katheder zum Werbetisch, um gegen die Türken zu ziehen.
Man hat von ihm nichts mehr gehört.
Quelle: Die Sagen und Legenden
der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 48, S.
68ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von
Anja Christina Hautzinger, Mai 2005.