Der bestrafte Wüstling
Nach dem Aberglauben der alten Zeit fand derjenige, welcher dreimal um
den Stephansdom zu laufen vermochte, ehe die Mitternachtstunde ausgeschlagen
hatte, einen "Hecktaler" (der, ausgegeben, stets wieder in die
Tasche des Eigentümers zurückkehrt) in seiner Tasche. Ein junger
Prasser, der sein Erbgut verjubelt hatte, entschloß sich, als er
sich an den Bettelstab gebracht sah, diesen Kreislauf zu unternehmen.
Wie mit Windesflügeln umkreiste er den Dom, über die Grabhügel
des Stephansfriedhofes laufend; nicht hinderte es ihn, daß ihm am
Grab des Vaters dessen dräuendes Bild entgegentrat, daß sein
aus Gram über seinen Verrat verstorbenes Liebchen ihm warnend winkte,
fern zu bleiben, er rannte unermüdlich fort. Aber da kam er an die
Stelle, wo der "Todten-Herrgott" aufgestellt war, und hier streckte
das todte Kind der verlassenen Geliebten das Ärmlein aus seinem Grabe
hervor, packte ihn am Kleide und hielt ihn so fest, daß er nicht
mehr weiterkonnte. Vergeblich versuchte er sich loszureißen - es
schlug zwölf Uhr - und tot stürzte der Wüstling über
das Grab seines Kindes hin.
Quelle: Die Sagen und Legenden
der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 41, S.
63f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von
Anja Christina Hautzinger, April 2005.