KREUZ UND HALBMOND

Das heftige Erdbeben des Jahres 1591 erschütterte den großen Turm der St.-Stephans-Kirche so gewaltig, daß sich die Heimstange an welcher der steinerne Knopf des Turmes ruhte, krümmte, und es wurde bei der bald darauf vorgenommenen Renovierung statt der steinernen eine kupferne, reichvergoldete Kugel mit einem Sterne und einem beweglichen Halbmonde aufgesetzt.

Kaiser Leopold I. beschloß nach dem glücklichen Entsatze Wiens durch die Türken 1683, statt des Halbmondes auf der Spitze des großen Turmes ein Kreuz aufsetzen zu lassen.

Der öffentlichen Aufforderung, diese äußerst waghalsige Arbeit zu unternehmen, wollte anfänglich niemand Folge leisten; endlich erboten sich zwei Werkleute, der eine für 5000, der andere für 7000 fl., was bei der Gefährlichkeit des Unternehmens gar nicht zuviel schien.

Ein Troppauer Ziegeldecker namens Ressytko erbot sich aber, um die Summe von 1000 fl. das gefährliche Unternehmen nicht nur zu seinem Nutzen, sondern zu Gottes und der Heiligen Ehre zu wagen.

Gerne wurde dieses Anerbieten angenommen, und am 12. Juli 1686 begann Ressytko mit seinen Söhnen die schwere Arbeit. Die in der halben Höhe des Turmes oberhalb der Uhr befindliche geräumige Galerie wurde von dem umsichtigen Meister als Stützpunkt seines nur sehr einfachen, bloß aus mehreren Pfosten und Leitern bestehenden Gerüstes ausersehen.

Das war ein Aufsehen in ganz Wien, als der kühne Mann am 14. Juli vormittags von dem Hause des damaligen Bürgermeister Schuster auszog, eine schwarzgelbe Fahne in der Hand, begleitet von seinen Söhnen, von denen einer die Trommel schlug, umwogt von Tausenden neugieriger Menschen!

Der sonst so stille und einsame Stephansfreithof bot ein Bild buntesten Treibens; denn wer nur irgend konnte, wollte das Ereignis miterleben, und gar viele mochten der Meinung sein, daß es einen üblen Ausgang nehmen werde. Jetzt wurden die Leitern angelegt, der Trommelwirbel verstummte, aber auch die Menge sah atemlos dem Beginnen Ressytkos zu. Dieser bestieg sicheren Trittes den Turm und endlich erscholl ein nicht enden wollendes Hurra, als er mit seinen Söhnen auf der Spitze des Turmes angelangt war.

Hier band er die Fahne an die höchste Leiter und begann nun unverzagt seine schwere Arbeit. Endlich gelang es ihm und seinen Söhnen, Mond und Stern loszulösen und auf die mächtige steinerne Rose des Turmes zu legen.

Unten wogte die Zuschauermenge in mehr freudiger als ängstlicher Stimmung, denn die Leute sahen, wie geschickt und sicher Ressytko mit seinen Söhnen oben hantierte.

Da stellte sich der Meister aufrecht hin, ergriff einen Becher, füllte ihn mit Wein und trank der Menge zu; damit auch die Jugend einen Spaß habe, schüttete er einen Sack voll Obst aus, daß die Äpfel nur so herunterflogen, und feuerte zuletzt eine Pistole ab.

Mond und Stern wurden dann durch die große Gewölböffnung im Turm in die Kirche hinabgelassen. Als die kühnen Männer herabgekommen waren, wußten sich die Leute kaum vor Freude zu fassen und begleiteten die mutigen Männer zu der kaiserlichen Burg, wo Ressytko dem Kaiser Mond und Stern zu Füßen legte.

Noch bewahrt das bürgerliche Zeughaus diese Überbleibsel aus alter Zeit, und jedermann kann sie sehen.

Meister Ressytko war von dieser Stunde an der gesuchteste Ziegeldeckermeister, und sein Glück war begründet.

Doch erst am 14. September wurde das spanische Kreuz aufgesetzt, freilich um schon am 14. Dezember von dem wütenden Sturme wieder herabgeschleudert zu werden. Da ließ der Kirchenmeister Philipp Radek am 31. Oktober 1687 durch den Steinmetz und Hüttenknecht bei St. Stephan, Georg Kugler, einen beweglichen Doppeladler aus Kupfer mit einem Kreuz darüber aufsetzen.

Unter die Volksmenge, welche dieser Arbeit zusah, wurden silberne und goldene Gedenkmünzen geworfen.

Aber der Adler und das Kreuz sollten noch nicht zur Ruhe kommen. Im Jahre 1809 kamen die Franzosen vor Wien und beschossen die Stadt, wobei auch der Stephansturm so arg beschädigt wurde, daß dessen Spitze zum großen Teil erneuert werden mußte. Und mit Besorgnis mußte man wahrnehmen, daß das alte, verwitterte Gestein nicht lange mehr die schwere Last zu tragen vermöge. So wurde am 20. Oktober 1842 der Adler mit dem Kreuze wieder abgenommen; 20 Meter des Türures wurden abgetragen, und ein neuer Turm wurde aufgesetzt. Leider zeigte es sich zu bald, daß der Stephansturm trotz dieser Ausbesserung zu sehr von dem Zahn der Zeit gelitten hatte, als daß nicht ein gründlicher Umbau desselben notwendig gewesen wäre. Doch die große Sorge der Wiener um ihren Stephansturm wurde durch die Hilfe ihres guten Kaisers Franz Joseph I. gründlich behoben. Über Anordnung des Kaisers fand im Jahre 1857 die Restauration des Stephansdomes statt; es wurden bis Juli 1861 38 Meter des Turmes abgetragen. Am 15. August 1864 war der Bau glücklich vollendet und das Kreuz mit dem Adler an die Spitze desselben gestellt. Dieser Adler, von dem Hofkupferschmiede Karl Obrist hergestellt, wiegt drei Zentner.


Quelle: Die schönsten Sagen aus Wien, o. A., o. J., Seite 174