DER VOM MÜNSTER GESTÜRZTE LEHRLING
An des Münsters Ostseite erblickt man den unausgebauten Turm, der an Kunst und Zierlichkeit der Skulpturen, die verschwenderisch an ihm angebracht sind, den ausgebauten Turm noch übertrifft. So geht nun die Sage:
Als Meister Pilgram den großen Turm gebaut hatte, betörte ihn der Stolz über alle Maßen, und er vermaß sich hoch, daß keiner es ihm nachtun könne. Da wettete der Lehrbub, daß er den zweiten Bau noch schöner aufführen wolle, und der Meister nahm die Wette an. Der Lehrling baute nun rüstig und guten Mutes, brachte auch den Turm bis zu einer gewissen Höhe, und alle Welt bewunderte den erfindungsreichen Fleiß des Jünglings; darüber erweckte der böse Feind Groll und Neid im Herzen des Meisters und das Gift der Eifersucht; denn der Meister sah gar wohl, daß der Lehrling ihn übertreffen werde. Und Meister Pilgram legte dem treuen und fleißigen Gesellen Buchsbaum eine Falle auf dem Gerüst; darauf ist dieser unversehens getreten und hat sich zu Tode gestürzt.
Als Wahrzeichen dieser so untreuen Tat zeigt man außen an der Kirche überm Portal des Riesentores unter andern abenteuerlichen Gestalten die Steinfigur eines Menschen, der seinen Fuß auf dem Knie eines andern aufstemmt.
Quelle: Volkssagen, Mährchen und Legenden
des Kaiserstaates Österreich, Ludwig Bechstein, 1840