Der Jungfernsee bei Breslau [Wrocław]
Der Jungfernsee liegt bei dem Dorfe Kottwitz unfern Breslau am linken Ufer der Oder. Wegen seiner mannigfachen Reize wird er viel von Breslauern aufgesucht, die sich gern an seinen waldigen Ufern ergehen. In der Mitte des weitausgedehnten Sees befindet sich etwas wie eine kleine Insel aus Schilf. An ihr zu landen, ist nicht möglich, weil kein fester Grund zu finden ist, worauf der Fuß ruhen könnte.
Wie dieser Jungfernsee zu seinem Namen gekommen ist, berichtet eine alte Sage. Sie erzählt von drei schönen Jungfrauen, die sich, ihre Schönheit zu erhöhen, gern schmückten. Aber sie glaubten, den lieben Gott nicht nötig zu haben, waren sie doch viel von jungen Liebhabern umworben. In die Kirche gingen sie selten oder gar nicht; denn sie hielten die Zeit, die sie in der Kirche zubrachten, für verloren. Nur dem Vergnügen huldigten sie. Namentlich der Tanzleidenschaft ergaben sie sich mit ungebändigter Gier.
Eines Tages wurden sie von ihren Eltern aufgefordert, zum Gottesdienste zu gehen. Um dem beständigen Drängen der Ihren zu entgehen, zogen sie ihre Feiertagskleider an und versicherten, in die Kirche gehen zu wollen.
Aber sie suchten nicht die Kirche auf, sondern begaben sich auf die Wiese zum Tanze, wohin sie ihre Verehrer bestellt hatten.
Wie sie so ungebändigt tanzten und sich in feurigem Wirbel drehten, öffnete sich auf einmal die Erde unter ihnen, Wasser quoll hervor und zog die Tanzenden in ihr nasses Grab. Seitdem ward nichts mehr von den Jungfrauen gesehen.
An der Stelle, wo sie im Wasser versanken, wuchsen gewaltige Schilfpflanzen aus der Tiefe hervor, ihr Grab zu decken. Wenn es jemand vermöchte, diese Schilfpflanzen mit der Wurzel aus ihrem feuchten Grunde zu reißen, dann könnte er die Jungfrauen von ihren Qualen im Jenseits befreien.
Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von
Oskar Kobel, Nr. 5