DER DOPPELGÄNGER

Ein Breslauer [Wrocław] Arzt hatte einst ein merkwürdiges Erlebnis. Am späten Abende kam er von seinen Krankenbesuchen nach Hause. Da sah er, wie ihm gegenüber auf der Straße ein Mensch schritt, der ihm vollständig glich; denselben Hut und Mantel trug er und hielt auch mit ihm stets gleichen Schritt. Was er auch tat, alles äffte er ihm nach. So kamen sie bis zur Wohnung des Arztes. Die Gestalt ging auf die Haustür zu, schloß sie auf und wieder zu und stieg, nach dem Geräusche zu urteilen, die Treppe hinauf. Oben angekommen, zündete sie Licht an. Der Arzt aber ging nicht in das Haus, sondern kletterte auf einen Baum, der gegenüber dem Fenster stand und sah, wie seine Wirtin ins Zimmer trat, mit der Gestalt unbefangen plauderte, das Abendbrot auftrug und wie jener endlich sich zu Bett begab und das Licht auslöschte.

Jetzt rannte der Arzt zu einem nahewohnenden Freunde, erzählte ihm alles und blieb über Nacht bei ihm. Am folgenden Morgen klopfte es bei diesem Freunde. Die Wirtin des Arztes erschien und jammerte: "Um Gottes Willen, denken Sie doch, der Doktor ist erschlagen. Die Decke ist in der Nacht heruntergebrochen und auf das Bett gefallen!" Sie glaubte allen Versicherungen des Freundes nicht und sagte: "Ich habe ihn doch noch gestern abend gesprochen!" Endlich erschien der Totgeglaubte, und nun ging man in seine Wohnung, um den Fall aufzuklären. Besonders forschte man danach, wer der Mann gewesen sein mochte, der sich gestern abend in des Doktors Gestalt schlafen gelegt hatte. Man räumte die Trümmer der Decke fort und fand — ein leeres Bett.


Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 6