DER LINDWURM AUF DER ZINNE
Kurze Zeit, nachdem Kronstadt zwischen die Berge hineingebaut worden war, soll ein gefährlicher Drache die kleine Höhle auf der Zinne bewohnt haben. Wenn das gräßliche Ungeheuer hungrig war, flog es ins Tal und verschlang Menschen und Tiere und war so der Schreck der ganzen Umgebung.
Da ging einst ein Student, der Sohn des damaligen Stadtrichters, an die Burg, um seine Predigt auswendig zu lernen. In der Nähe der Stadtmauer suchte er sich ein schönes Plätzchen, sagte sich aber in seinem Eifer die Predigt so laut vor, daß ihn der Drache hörte. Der Student konnte nicht fliehen und wurde verschlungen.
Da war großer Jammer in der Stadt, denn jedermann hatte den hoffnungsvollen Jüngling lieb. Seine Eltern konnten den Schmerz kaum ertragen.
Ein Fremder aber ging zum Stadtrichter und sprach: "Mit Gewalt kann man gegen dieses schreckliche Tier nichts ausrichten. Vielleicht gelingt es aber, den Drachen mit List zu töten. Wenn wir eilen, können wir euern Sohn noch retten." Der Stadtrichter versprach ihm einen hohen Lohn. Der Fremde füllte ein Kalbfell mit gebranntem Kalk und stellte es auf einen freien Grasplatz an der Burg. Er versteckte sich und blökte wie ein Kalb. Der Drache hörte dies, sah das Kalb, flog hinzu und verschlang es heißhungrig. Nach dem Verschlingen verspürte er einen großen Durst, flog zum nächsten Wasser und löschte seinen Durst. Da fing aber der Kalk an, das Wasser begierig aufzusaugen und erhitzte sich so, daß der Drache zerplatzte. So war der noch lebende Student gerettet. Der dankbare Vater beschenkte den listigen Mann aufs reichlichste und ließ zur Erinnerung an die wunderbare Rettung seines Sohnes das Bild des Lindenwurms an die Mauer, die vom östlichen Eck der Stadt zum Schütze an der Zinne hinaufführt, anbringen.
Quelle: Siebenbürgische Sagen, Herausgegeben
von Friedrich Müller 1857, 1885; Neue erweiterte Ausgabe von Misch
Orend, Göttingen, 1972, Nr. LXXXIX, S. 84