DIE WEINENDE MUTTER
Eine Frau hatte ihr erstes und einziges Kind durch den Tod verloren und war darüber untröstlich. Sie ging jeden Tag auf den Friedhof, setzte sich auf den Grabhügel ihres Kindes und weinte bitterlich. Als sie einst wieder auf diese Weise ihrem Schmerze sich hingab, überwältigte sie der Kummer so sehr, daß sie ohnmächtig hinsank. Sie verfiel in einen tiefen Schlummer; darin träumte ihr, es komme ihr Kindlein zu ihr in nassem Hemdlein, gebückt unter der Last zweier großer irdener Krüge, deren es in jeder Hand einen trug. "Ach", rief es, als es ihr näherkam, "Mutter, weine nicht mehr; ich kann deine vielen Tränen so nicht mehr tragen!" Als die Frau erwachte, sann sie nach über ihren Traum und weinte von dieser Zeit nicht mehr am Grabe ihres Erstgeborenen.
Quelle: Siebenbürgische Sagen, Herausgegeben
von Friedrich Müller 1857, 1885; Neue erweiterte Ausgabe von Misch
Orend, Göttingen, 1972, Nr. 87, S. 88