GESCHICHTE DER SAGEN
In Deutschland lebten
die alten Heldenlieder weiter, Sagen, die auf ihnen beruhen, hatten uns
ja Widukind von Corven und Aimoin im zehnten Jahrhundert aufgezeichnet.
Doch wenn Ermanarich, Dietrich von Bern und ihre Helden sonst erwähnt
werden, so wird dabei gern hinzugefügt, daß nur das Volk sich
von ihnen unterhielt, und das Volk wird besonders das Wirksame und Abenteuerliche
und Übertriebene der alten Mären betont und wohl auch vergröbert
haben.
In der Literatur aber herrschten vor allem die Geistlichen. Sie wollten die Bildung und den Geschmack und die Dichtung des Volkes mit christlichem Geist erfüllen und durchdringen, und in immer neuen Versuchen mühten sie sich, die geistliche, die gelehrte und auch die unterhaltende Dichtung zu pflegen und zu verbreiten. Da vom neunten Jahrhundert an bis tief in das elfte Jahrhundert hinein keiner dieser Versuche einen dauernden Erfolg hatte, so konnten sie weder eine Literatur, noch eine Überlieferung schaffen, nur eine Fülle der verschiedensten und isoliert bleibenden literarischen Versuche erzeugte sich aus ihnen.
Neben den Geistlichen erschienen als Pfleger der Literatur die Spielleute.
Doch diese waren nicht die Nachfahren der germanischen Sänger, sondern
die Erben der römischen Mime und Gaukler, eine Hinterlassenschaft
der alten Welt an das Mittelalter von immerhin zweifelhaftem Wert. Es
war eine bunt und üppig durcheinander gewürfelte Gesellschaft;
sie traten gerne in Massen auf und führten wohl auch einen Troß
von Frauen mit sich. Schauspieler und Seiltänzer, Akrobaten und Musiker,
Kundschafter und wandernde Zeitungen, Sänger und Erzähler, alles
waren sie in einem. Sie unterhielten das Volk auf den Gassen und rissen
es zum Jubel hin, sie sangen auch den Ruhm dessen, der ihnen Brot, Geld
und Geschenke gab, und machten sich ihm durch ihre Schlauheit und ihre
Verwegenheit unentbehrlich. Natürlich blieben sie selbst auf die
Gunst der Mächtigen und Reichen besonders angewiesen. Um den Mönchen
und um den hohen geistlichen Herren zu gefallen, trugen sie ihnen daher
gewandt und gefügig, wie sie waren, lateinische Schwanke und Lieder
in den Formen und Maßen der geistlichen Dichtung vor und suchten
zugleich durch ihre derben Spaße und durch unterhaltsame Geschichten
die geistlichen Poeten aus der Gunst des Volkes zu verdrängen. Auch
bemächtigten sie sich der nationalen Dichtung und bildeten sie nach
ihrer Art weiter; noch an der Gudrun und an dem deutschen Nibelungenlied
erkennen- wir die vergröbernden Hände der Spielleute. Es ist
daher kein Zufall, wenn die beiden deutschen Heldengedichte, die uns aus
dem zehnten und aus dem Anfang des zwölften Jahrhunderts erhalten
sind, das eine, der Waltharius manu fortis (Walter Starkhand) einen Geistlichen,
das andere, der König Rother, einen Spielmann zum Dichter hat.
Quelle: Heldensagen, Genf 1996