Hilde und Gudrun
Das Gedicht von Gudrun ist uns in einer einzigen, in der berühmten Ambraser Handschrift überliefert, die im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts der Schreiber Hand Ried in Bozen für den Kaiser Maximilian schrieb. Die Vorlage des Hans Ried war eine Handschrift des dreizehnten Jahrhunderts, und aus dem dreizehnten Jahrhundert, wohl aus seinem zweiten Jahrzehnt, stammt die Gudrun.
Ihr erster Teil ist dem Hagen, dem König von Irland, gewidmet. Wie er ein Knabe war, raubte ihn bei einem großen Fest seiner Eltern ein Greif und schleppte ihn auf ein ödes Eiland. Das Kind sollte den Jungen des Vogels zum Fraß dienen. Aber es kroch aus dem Nest, erschlug die Greifen und fand auf der Insel drei Königstöchter, die von den Vögeln ebenfalls dorthin verschleppt waren und die sich durch Flucht gerettet. Diesen fristete Hagen durch seine Jagdbeute sein Leben, und er nahm an Stärke und Wildheit unmäßig zu, nachdem er vom Blut eines rätselhaften Tieres, eines Gabilunes, getrunken, das er vorher erlegt. Dann fuhr an der Insel ein Schiff vorbei, seine Mannen hörten die Rufe Hagens und nahmen ihn und seine Gespielinnen auf. Sie brachten sie in die Heimat zurück, nicht ohne daß Hagen vorher die Schiffleute durch seine Kraft in Schrecken gesetzt und sich ihrer Hinterlist erwehrt hätte. Sigebant, der Vater, überließ nun dem Hagen die Krone, und der nahm sich die schönste der Jungfrauen, Hilde, zum Weib.
Ambraser Heldenbuch
Mittelhochdeutsche Handschrift, als 1517 vollendetes Auftragswerk Kaiser
Maximilians I. vermutlich im Gewölbe der Innsbrucker Burg verwahrt.
Von dort um 1574 von Erzherzog Ferdinand II. in das Schloß Ambras
transferiert.
Das 'Heldenbuch' wurde von dem Kanzleischreiber Hans Ried in den Jahren
1504 bis 1515/16 geschrieben.
Der bereits im Inhaltsverzeichnis als 'Heldenpuoch' bezeichnete Codex
enthält zu Beginn sieben Werke der höfischen Epik, in seinem
Hauptteil acht Werke der Heldenepik, acht Werke der Kleinepik österreichischer
Herkunft und einen Anhang von zwei Fragmenten mit Wolfram von Eschenbachs
'Titurel' und dem 'Priester Johannes'. Das 'Heldenbuch' überliefert
unter den 25 Titeln 15 Werke als Unika, die im 12. und 13. Jahrhundert
entstanden sind, und greift auf verschiedene Vorlagen zurück, die
für den dritten Teil der Kleinepik in Tiroler Adelsbibliotheken aufgespürt
wurden. Das Mittelteil selbst mit den Heldenepen geht möglicherweise
auf ein 'Heldenbuch' zurück, das der Schreiber des Staberlmeisters
Wilhelm von Oy im Jahre 1502 an der Etsch kopierte. Vermutlich nach dieser
rezenten Vorlage, die nicht mehr erhalten ist, überliefert das 'Ambraser
Heldenbuch' die folgenden Epen: 'Dietrichs Flucht', 'Rabenschlacht', 'Nibelungenlied',
'Die Klage', 'Kudrun', 'Biterolf', 'Ortnit' und 'Wolfdietrich A'.
Die 'Kudrun' gilt als berühmteste unikale Textüberlieferung
des 'Heldenbuches', wo sie den rubrizierten Titel 'Ditz puech ist von
Chautrun' hat. Die Entstehung des Werkes wird allgemein um die Mitte des
13. Jahrhunderts auf bairisch-österreichischem Boden angenommen.
In 1705 Strophen sind 32 'Aventurien' dargestellt, die sich in den 'Hagenteil',
'Hildeteil' und den umfangreichen 'Kudrunteil' gliedern. Neben der Verarbeitung
altenglischer und skandinavischer Quellen und nordseegermanischer Sagentraditionen
gehört das Epos auch in den größeren Zusammenhang der
europäisch-vorderasiatischen Brautwerbungsdichtungen.
Quelle: zitiert aus: Natur und Kunst, Handschriften und Alben aus der
Ambraser Sammlung Erzherzog Ferdinands II. (1529 - 1595), Alfred Auer,
Eva Irblich, Ausstellung des Kunsthistorischen Museums, Schloß Ambras,
Innsbruck, 1995, S. 122 f.
Als König war Hagen durch seine Wildheit, seine Stärke und seine Strenge gefürchtet. Seine Tochter, die wieder Hilde hieß, versagte er jedem Freier, die Boten ließ er hängen. Die Schönheit des Mädchens wurde weithin gerühmt, von ihr hörte auch der mächtige König Hetel von Dänemark, dessen Herrschaft weit über die Nordsee und Ostsee reichte. Seine Helden bereiteten sich, ihm die Braut zu gewinnen. Es waren Wate von Stürmen, Horand und Frute von Dänemark, Morung von Rifland und Irold von Ortland. Die Helden rüsteten ein Schiff aus mit prächtigem Schmuck, Kostbarkeiten und Gewanden und verkleideten sich als Kaufleute, in den Schiffsraum aber legten sie gewaffnete Krieger. In Irland gaben sie vor, der gewaltige König Hetel habe sie vertrieben, sie erbaten den Schutz Hagens, und er wurde ihnen gern gewährt. Frute breitete in den Häusern, die man den Recken eingeräumt, seine Schätze aus und verkaufte sie wohlfeiler, als sie je ein Kaufmann verkauft hatte, ja, er gab auch allen denen gern, die ohne Kauf etwas begehrten. Die seltene Freigebigketi der Fremden eregte überall staunende Verwunderung, auch die junge Königstochter hörte von ihnen und wollte sie natürlich sehen. So lud man denn die Kaufleute an den Hof, dort schufen ihnen ihre reiche und prächtige Kleidung und ihr ritterliches Auftreten neue Freunde und Verehrer.
Wate maß sich mit Hagen in der Kunst des Fechtens, dabei zeigte er sich dem starken König ebenbürtig. Horand aber sang so schön, daß Hagen und die Seinen hingerissen zuhörten; auch die Tiere im Walde ließen ihre Weide stehen und die Würmer im Grase, die Fische im Wasser lauschten. Hilde entbot den Sänger heimlich zu sich, da sang er ihr seine schönsten Weisen und trug ihr dann die Werbung seines Herrn vor. Die Jungfrau will gern dem König Hetel folgen, wenn Horand auch dort morgens und abends ihr vorsingen wolle, das verspricht ihr der Held gern, doch seien bei Hetel zwölf Sänger, die ihn an Kunstfertigkeit überträfen, am schönsten aber singe der König selbst.
Nun nahmen die Gäste Abschied vom König; Hetel habe nach ihnen gesandt und ihnen Sühne geboten. Hagen geleitete sie auf ihre Schiffe, um auch selbst die dort ausgestellten Schätze zu betrachten. Hilde ging auf das reichste Schiff, auf das Frutes. Sowie sie mit ihren Jungfrauen an Bord war, wurden die Anker gelöst und die Segel aufgezogen, die verborgenen Gewappneten sprangen hervor, und vor den Augen ihrer Eltern fuhr Hilde davon. Hagen, in heller Wut, wollte den Flüchtigen sofort nach, doch seine Schiffe waren leck und nicht fahrbereit. Aber bald hatte er eine Flotte gesammelt, und als Hilde ankam und Hetel seine Braut empfing, erschienen am Horizont auch Hagens Schiffe. Am Strand begann nun ein grimmer Kampf. Hetel wurde dabei von Hagen verwundet, aber Wate war stärker selbst als der König von Irland und brachte ihm eine Wunde bei. Da flehte Hilde bei Hetel für den Vater und der schied den wütenden Streit der Helden. Wate, der von einem wilden Weib die Heilkunst gelernt, heilte die Verwundeten. Hagen verzieh gern seiner Tochter und erfreute sich ihres tapferen Gemahls, hätte er noch mehr Töchter, sagte er, so würde er sie alle zu Hetel und den Hegelingen senden.
Hetel und Hilde gewannen zwei Kinder: einen Sohn Ortwin und eine Tochter Gudrun. Die Tochter übertraf die Mutter noch an Schönheit, und sie wurde gleich ihr allen Freiern versagt. Der erste Werber war der heidnische König Siegfried von Morland. Er drohte, als er zurückgewiesen wurde, dem Hetel sein Reich zu verbrennen. Der zweite Werber Hartmut, der Sohn Ludwigs von der Normandie, schickte Boten, die nichts ausrichteten; dann kam er selbst, unerkannt, an Hetels Hof, gewann den Zutritt zu Gudrun und gab sich ihr zu erkennen; doch sie bat ihn nur, er möge forteilen, wenn ihm sein Leben lieb sei. Der dritte Werber, Herwig von Seeland, überzog den Hetel, als er verschmäht wurde, mit Krieg. Beim Zweikampf erprobte Hetel die Männlichkeit des jungen Helden und gewann zu ihm Zuneigung. Gudrun, die dem Kampf der beiden zusah, fühlte Stolz und Sorge zugleich und fühlte, wie die Liebe zu Herwig in ihr Herz einzog. Sie schied und versöhnte beide Kämpfer und wurde dem Herwig anverlobt.
Als Siegfried das hörte, fiel er, um sich zu rächen, in Herwigs Land ein. Dieser eilte zurück und Hetel zog mit ihm, um dem Bräutigam der Tochter Beistand zu leisten. Da vernahmen wieder Ludwig und Hartmut, daß Hetels Land und Helden entblößt seien; sie kamen mit einer großen Flotte und raubten Gudrun und ihre Jungfrauen. Als Herwig und Hetel die böse Botschaft hörten, schlössen sie Frieden mit Siegfried, und der gewährte ihnen sogar seine Hilfe. Alle eilten sie den Räubern nach, und auf dem Wülpenwerk erreichten sie die Normannen, wie sie gerade Rast hielten. Hetel erkämpfte sich die Landung, wieder erhob sich eine furchtbare Schlacht, die tapferen Helden beider Heere fielen, im Kampf wurde Hetel von Ludwig erschlagen. Nachts fuhren die Normannen mit Gudrun davon, Herwig und die Seinen aber waren durch ihre Verluste so geschwächt, daß sie ihnen nicht folgen und sie nicht in der Normandie angreifen konnten. So kehrten sie heim, die Rache mußten sie verschieben, bis die Kinder der Erschlagenen heranwuchsen.
Gudrun verweigerte Hartmut ihre Hand, sie könne dem nicht als Gemahlin folgen, dessen Vater ihren Vater erschlug, und sie wollte dem Herwig die Treue halten. Gerlint, Hartmuts Mutter, bot der Gudrun ihre Krone an, aber die Jungfrau blieb fest. Wie nun der junge König auf neue Heerfahrten zog, peinigte Gerlint die Gudrun und ihre Jungfrauen. Die stolze Königstochter mußte die Dienste einer Magd verrichten, mit ihren Haaren den Staub von Tischen und Bänken fegen und den Ofen heizen. Hartmut wiederholte seine Werbung und blieb immer ritterlich, Ortrun, seine Schwester, redete der Gudrun gütig zu, doch es blieb alles vergebens. Schließlich mußte Gudrun Tag für Tag die Kleidung Gerlints und des Gesindes am Meeresstrande waschen. Die treueste ihrer Gefährtinnen, Hiltburg, teilte gern ihr Los und ihre Erniedrigungen.
So vergingen dreizehn Jahre. Da ermahnte Frau Hilde die Helden an die Rache. Ortwin, Herwig, Frute, Wate und Horand führten ein starkes Heer über die See. Sie erreichten die normannische Küste und verbargen hinter einer waldigen Insel ihre Flotte. Herwig und Ortwin machten sich sofort auf zur Kundschaft.
Der Gudrun aber erschien, als sie am Strande wusch, auf den Wellen schwimmend ein Vogel; der verkündete ihr, ein Bote Gottes mit menschlicher Stimme, daß ihr Verlobter und ihr Bruder lebten, und daß ihre Freunde nun bald kommen würden, sie zu befreien. Die beiden Mädchen, voller Freude über das Gehörte, versäumten sich im Waschen und mußten abends einen besonders grimmigen Zornausbruch der Gerlint über sich ergehen lassen. Am nächsten Morgen war Schnee gefallen, und ein eisiger Märzwind wehte. Aber Gerlint wollte den beiden keine Schuhe geben, barfuß und im Hemd mußten sie durch den Schnee an den Meeresstrand waten. Dort erblickten sie endlich das ersehnte Boot und zwei Männer darin; als die Helden ans Land springen, wollen die Jungfrauen voller Scham fliehen, doch der Ruf der beiden hält sie zurück. Sie beben vor Frost, der Wind hat ihre Haare ganz zerzaust, und ihr schneeweißer Leib schimmert durch das Hemd. Die Helden bieten ihnen Mäntel an, doch sie weisen sie zurück. Noch erkennen sie sich nicht, und Ortwin fragt nach dem Fürsten des Landes und nach der Königstochter, die vor Jahren hergeführt wurde. Die sei vor Jammer gestorben, sagt Gudrun. Da fließen die Tränen aus den Augen der Männer. Dann aber erkennen Gudrun und Herwig eins an dem andern die goldenen Ringe an der Hand, Braut und Bräutigam küssen sich, und die Helden scheiden mit dem Versprechen, sie würden am nächsten Tag mit gewaltigem Heer vor der Burg erscheinen.
Gudrun aber will nicht länger dienen, nachdem zwei Könige sie geküßt und umarmt, und sie wirft das Linnen der Gerlint in das Meer. Der alten Königin, die sie zur Rede stellt, begegnet sie mit trotziger Antwort. Die droht ihr, sie würde sie mit Ruten peitschen und sie grausamer als je züchtigen. Gudrun verheißt ihr Rache, wenn sie einst gekrönt unter mächtigen Königinnen stehen würde und erklärt sich plötzlich geneigt, dem Hartmut die Hand zu reichen. Gerlint verzeiht ihr nun gern, sie jubelt, daß die Stolze sich endlich ergab. Hartmut eilt freudig herbei und will die Braut umarmen, sie deutet auf ihre ärmliche Kleidung und weist ihn zurück, noch sei sie nur eine arme Wäscherin. Dann bittet sie für sich und für ihre Jungfrauen um die gebührende Speise und Pflege. Die wird ihr gern gewährt. Als sie dann in ihrer Kemenate mit ihren Jungfrauen zusammen sitzt, teilt sie ihnen mit, was sie erlebt und lacht jubelnd und in wildem Triumph auf - als sie das Lachen hört, fürchtet die alte Königin, aber nur sie, Unheil.
Am nächsten Morgen sieht eine Jungfrau beim ersten Tagesschein und
beim ersten Glanz des Wassers das Meer voller Segel und das in Waffen
leuchtende Gefilde. Der Wächter weckt Ludwig und seine Helden und
der Enscheidungskampf beginnt. Die Normannen tun sich durch große
Tapferkeit hervor, Ludwig bringt den jungen Herwig in schwere Bedrängnis,
wird aber endlich von ihm erschlagen. Nur die Fürbitte Gudruns und
Herwigs Dazwischentreten, das ihm fast das Leben kostet, vermag es, den
Wate von Hartmut fortzureißen. Nun stürmt der Alte in die Burg
und erschlägt dort auch die Kinder, damit sie nicht zum Schaden der
Nachkommen heranwachsen. Die alte Gerlint zieht er, trotz Gudruns hochherziger
Fürbitte, aus ihrem Versteck hervor und schlägt ihr das Haupt
ab. Ortrun wird von der dankbaren Gudrun beschützt. Das Land aber
wird zerstört und die Burgen gebrochen. Nachdem Sieg und Rache vollendet,
löst eine große Versöhnung den Kampf und Streit und verwandelt
ihn in Frieden und Freude. Hartmut erhält sein Land zurück und
wird mit Hiltburg vermählt. Seine Schwester Ortrud erhält Ortwin
zum Gemahl, Siegfried von Morland erhält Herwigs Schwester, vor allem
aber vereinen sich Herwig und Gudrun für immer, und Herwig führt
die Braut nach Seeland heim.
Wenn wir die Gudrun unbefangen auf uns wirken lassen und uns dabei die
alten Heldenlieder und die mittelalterlichen Dichtungen vergegenwärtigen,
die nun schon in langer Reihe an uns vorüberglitten, so fühlen
wir wohl manchen Anklang und manches Motiv aus der heroischen Zeit, und
diese verstärken sich am Ende des Gedichtes. Besonders nah scheinen
uns die Beziehungen der Gudrun zur dänischen Heldendichtung. Aber
die Ähnlichkeiten, die das Gedicht mit den Spielmannsgedichten des
deutschen Mittelalters verbinden, sind auffallender. Es hat die gleiche
Liebe für den Reichtum und die Fülle der Erzählung. Der
Geschichte von der Hilde und von der Gudrun schickt es die von Hagen voran,
eine abenteuerliche Erfindung, für die zuerst die Kreuzzüge
mit ihren seltsamen und wunderbaren Erlebnissen und namentlich die Berichte
von den merkwürdigen und sonderbaren Taten und Reisen des Herzogs
Ernst den Boden geschaffen haben. Die Geschichte der Hilde verbindet wie
der König Rother die Werbung mit der listigen Entführung, die
zuerst der Orient ersann. Der Dichter der Gudrun verweilt dabei weniger
bei dem Heldentum der Mannen Hetels als bei ihrem Reichtum, ihren Kostbarkeiten
und ihrem vornehmen Auftreten. Endlich die Geschichte der Gudrun ist in
gewissem Sinne eine Vermehrung und Steigerung von der Geschichte der Hilde,
wie die Gudrun die Mutter ja auch an Schönheit übertrifft. Drei
Werber, nicht wie bei Hilde einer, bemühen sich um Gudruns Gunst.
Der Einfall Siegfrieds in Herwigs Land, der Einfall der Normannen bei
Hetel, der Kampf von Hetel zuerst gegen Herwig, dann gegen Hartmut und
Ludwig, verwickeln und bereichern die Handlung. Herwig führt die
Braut erst heim, nachdem diese ihren Vater verloren und eine schwere Zeit
der Prüfung überstanden, der Geschichte des glücklichen
Werbers Herwig steht die des unglücklichen, des Hartmut gegenüber.
Der Bericht über Gudruns Prüfungszeit gleitet in das Märchenhafte,
die Gerlint peinigt sie wie die böse Stiefmutter des Märchens
die ihr verhaßten Kinder, und die Wundererscheinung, durch die Gudrun
getröstet und beseligt wird, gibt den Begebnissen dann noch einen
besonderen Schimmer des Wunderbaren.
Der Dichter der Gudrun wandte sich, wie wir sehen, den Spielleuten gleich an Hörer, die unterhalten sein wollten, und er wußte mit einem Geschick, das uns weder der Rother, noch der Wolfdietrich, noch gar die Gedichte über Dietrich von Bern zeigen, die Begebnisse zu verdoppeln, zu steigern und immer reicher, verwickelter und großartiger zu gestalten. Wie die Spielleute sorgte er neben der Unterhaltung für die Rührung. Er läßt sich ebensowenig wie der Dichter des Rother und des Wolfdietrich eine Wiedererkennungsszene entgehen. Als Herwig und Ortwin und Gudrun sich nach langer Trennung begrüßen, weinen sogar die Männer. Die Wiedererkennung wird dadurch noch ergreifender, daß die Königstochter zuerst sagt, die Gudrun, sie selbst, sei vor Jammer gestorben. In ganz großem Stil aber brachte der Dichter das gute Ende, das seine Hörer verlangten. Nicht so einfach stellte er es her wie bei der Hilde, Tod und Wehklage gehen ihm voraus, dann aber finden sich nicht nur Herwig und Gudrun, auch Hartmut, Siegfried, Hildburg und Ortrun scheiden als glücklich Vermählte von uns.
Die einzelnen Ereignisse, Feste, Werbungen, Botenreisen, Beratungen, Rüstungen, Überfälle, Kämpfe, Seefahrten, putzt und schmückt der Dichter überall. Welche Fülle der Helden: Hagen, Hetel, Wate, Horand, Frute, Morung, Irold, Herwig, Ortwin, Hartmut, Ludwig, Siegfried. An den Kämpfen selbst läßt der Dichter unendliche Mengen teilnehmen und übertreibt die Zahlen in das Phantastische. Der Kampf der Könige vollzieht sich nach ritterlichem Brauch, und die Helden fechten wie die der französischen Heldengedichte auch friedlich miteinander, um ihre Kräfte zu messen. Bei dem Kampf der Waffen hören wir den dröhnenden Klang der Schwerter, fühlen die Hiebe auf den Gegner niederprasseln, sehen die Funken aus Helmen und Klingen springen, entzückt gleiten die Blicke des Dichters über die in wundervoller Ordnung anrückenden Scharen, er schildert, stolz über seine Kenntnisse, die einzelnen Heerzeichen, wie er denn auch bei Empfängen und Festen auf die Wahrung des Zeremoniellen sehr bedacht ist.
Überall erkennen wir den Reichtum, die Buntheit und die Freude an der Fülle der Ereignisse und Schilderungen, und darin begrüßen wir das Mittelalter, das die Kreuzzüge und das Rittertum geschaffen haben. Eine ritterliche Dichtung, aber nicht im exklusiven Geschmack der höfischen Epen, sondern eine ritterliche Dichtung, durch die ein Spielmann breite Massen von Hörern erfreuen wollte, das war die Gudrun.
Der Eindruck, den das Gedicht auf uns Gegenwärtige macht, ist, während wir es lesen, recht wechselnd. Neben frischen und starken Stellen stehen Weitschweifigkeiten, matte und erfindungsarme Verse, eine mühselig sich weiterschleppende Erzählung, eine Art, in endlosen Wendungen, die nur wenig voneinander abweichen, im Grund immer wieder das gleiche zu sagen. Es ist darum nicht zu verwundern, daß die Forschung sich bemühte, diese schwachen und unvollkommenen Teile zu entfernen und das Gedicht in alter Reinheit und Größe wiederherzustellen. Aber diese Versuche gingen von falschen Voraussetzungen aus, sie meinten, wenn sie die späteren Zutaten abtrennten, gewännen sie ein wuchtiges Gedicht des heroischen Stils; das wollte und konnte aber die Gudrun niemals sein. Die alten Lieder und Sagen aus der heroischen Zeit, die sie verwertet, bildet sie ja nach ihrem Geschmack um; sie waren ihr auch viel weniger durch ihren heroischen Charakter als durch ihren wechselvollen Inhalt, durch die Geschichten von Werbung und Kampf willkommen. Gerade was uns als Weitschweifigkeit erscheint, verlangte vielleicht die Zuhörerschaft des alten Dichters. Dadurch, daß er sich oft wiederholte, machte er seine Verse eindringlicher und einprägsamer, als wenn er die Dinge nur einmal ausgesprochen hätte. Wenn die Gudrun überhaupt jemals wesentlich anders war als so, wie sie nun vor uns steht, so war sie doch immer eine Spielmannsdichtung und dem König Rother und dem Herzog Ernst enger verwandt als den alten Heldenliedern. Aus dieser literarischen Stellung unseres Gedichtes dürfen wir uns auch ableiten, daß der Dichter so gern formelhafte Wendungen und Reime bringt, die seinen Hörern vertraut waren, sich in Variationen ergeht und anderen Dichtungen, von denen er wiederum annahm, daß seine Zuhörer sie kannten, allerhand Einflüsse auf sein Werk gestattete.
Aus der reinen Spielmannsdichtung ragt die Gudrun doch wieder hervor, nicht allein durch die Kunst ihres Aufbaues, auch durch ihre Kunst, Charaktere zu erfassen und zu schildern.
Wieviele haben schon an Hagen und Wate, an Hartmut und Horand, an Hilde und Gudrun sich gefreut, wie nah und wie lebendig sind uns diese Menschen! Hagen und vor allem Wate sind sicher und mit leichter Überlegenheit erfaßt, Hagen bei aller seiner Wildheit streng und gerecht, Wate ein Vorbild stürmischer und unersättlicher Tapferkeit, Haudegen und doch das Muster eines Helden, voll rasenden Zorns, wenn die Wildheit des Kampfes über ihn kommt, sonst ein Wahrer heroischer Sitte, einfach und gradaus, ja voll entzückender Kindlichkeit und voller Freude an bunten märchenhaften Geschichten. Sehr hübsch steht diesem rauhen, männlichen, ungefügen Recken der schmiegsame, verführerische und doch so ritterliche Horand gegenüber, dem die Herzen aller Frauen zufliegen. Für Herwig tut der Dichter weniger, sein Glück nach langer Leidenszeit und die Liebe, durch die Gudrun ihn auszeichnet, war ihm wohl genug. Dagegen hebt er den unglücklichen Nebenbuhler Hartmut. Niemals verliert dieser der Gudrun gegenüber seine ritterliche Zartheit und Schonung, immer schützt er sie, wo er nur kann, vor dem Zorn und der rohen Mißhandlung Gerlints und Ludwigs. Als die Geliebte sich ihm zusagt, als er sie umarmen will, sie aber sich ihm entzieht, da tritt er bescheiden zurück und gönnt ihr und ihrem Gefolge gern ihre Freude. Er beschwichtigt sogar die mißtrauische Gerlint. Es liegt gewiß eine Tragik darin, daß er gerade, als er nach jahrelangem Harren sich endlich am Ziel seiner Wünsche wähnt, überwunden und seines Glücks und Landes beraubt wird. Reizend ist Hilde. Dem Bater, an den sich sonst niemand heranwagt, streichelt sie den Bart und bettelt ihm eine Erlaubnis ab. Voller Scheu und doch glücklich, einmal etwas Verbotenes zu tun und etwas Interessantes zu erleben, empfängt sie den Horand, und sie erklärt sich nur dann bereit, dem Hetel zu folgen, wenn auch bei ihm Horand ihr jeden Morgen und Abend etwas vorsinge.
Die reichste und größte unter ihnen bleibt aber, wie wir alle
wissen, Gudrun. Der Dichter läßt sie nach germanischer Art
vor unseren Augen wachsen, nicht im Glück, erst in Not und Elend
zeigt sie ihre ganz Größe und Treue. Durch ihre Ruhe, mit der
sie gelassen und königlich alle Demütigungen erträgt, erhebt
sie immer von neuem sich über die Gerlint und reizt diese dadurch
zu heftigerem und doch ohnmächtigem Zorn. Als die Vergeltung naht,
ist sie ganz germanische Heldin in ihrer Verschlagenheit, ihrem listigen
Trug und ihrem wilden Triumph. Mitten im Kampf enthüllt sich ihre
Hochherzigkeit und Milde, sie schont die Ortrun, sie will sogar ihre Peinigerin,
die Gerlint, schonen, und das ist vielleicht der schönste Zug in
ihrem Wesen. Dabei bleibt Gudrun als Königin und als Wäscherin
immer ganz Frau, voll zarten Gefühls für Schicklichkeit und
Scham. Die Feinfühligkeit der psychologischen Schilderung haben wir
im Germanischen noch nicht, wohl aber in der dänischen Heldendichtung
entdeckt, die Milde und Großmut hat wohl das Christentum der Gudrun
gegeben.
Der Charakter der Gudrun bringt uns den heroischen Anfängen des Gedichtes
nah. Wir haben schon angedeutet, wo vor allem wir diese suchen müssen:
in Dänemark.
Hetel ist dänischer König, und sein Reich erstreckt sich weit über Nord- und Ostsee. Es entspricht ungefähr dem Dänemark vom Ende des neunten Jahrhunderts. Damals herrschte Dänemark in England und unternahm Beutezüge nach Irland. Hagen aber, Hildes Vater, ist irischer König. Horand und Frute sind dänische Helden, Frute ursprünglich der freigebige und milde dänische König Frodi. Wo Wates Mark Stürmen liegt, ob bei Verden oder in Holstein, ist ungewiß. Und ebenso bleibt es unsicher, ob wir Herwig in Seeland ansiedeln dürfen. Siegfried von Morland ist wieder ein Dänenfürst, der im neunten Jahrhundert in Frankreich und den Niederlanden einfiel und im Kampf gegen die Friesen seinen Tod fand. Hartmut und Ludwig sind Normannen, die Normannen hatten enge Beziehungen zu England im zehnten Jahrhundert, England aber gehörte im zehnten Jahrhundert auch zu Dänemark. Der Wülpenwerk (wulp heißt ein Brachvogel, der in der Gegend dort nistet) ist bei der Scheidenmündung im westlichen Friesland nachgewiesen. Diese Namen und Orte weisen, soweit sie sicher sind, auf die Dänen des neunten und zehnten Jahrhunderts und ihre Kämpfe mit germanischen Völkern, mit den Friesen und den Normannen und außerdem mit den Iren. Die noch unsicheren Namen widersprechen diesen Zeugnissen nicht.
In dieselbe Zeit und in dieselben Kämpfe führt auch, manchmal allerdings auf Umwegen, der Inhalt der Gudrun. Von Hetel und Hilde erzählt der Isländer Snorri:
Ein König, der Hagen genannt ist, hatte eine Tochter, die Hild hieß; sie nahm als Kriegsbeute ein König, der Hedin hieß, der Sohn des Hjarrandi. Da war der König gerade gefahren zu einer Königsversammlung. Aber als er erfuhr, daß in seinem Reiche geheert war und seine Tochter fortgenommen, da machte er sich mit seinen Mannen auf, um Hedin zu suchen, und erfuhr über ihn, daß er nach dem Norden zu gefahren sei. Als der König Hagen nach Norwegen kam, erfuhr er, daß Hedin weitergesegelt sei, nach Westen, da segelte Hagen ihm immer nach, bis zu den Orkney-Inseln, und als er dorthin kam zu der Insel, die Haen heißt, da lagen Hedin und sein Gefolge vor ihm. Nun fuhr Hild zur Begegnung mit ihrem Vater und bot ihm einen Vergleich an von Hedins Seite, aber in demselben Atem sagte sie, daß Hedin zum Schlagen bereit sei, und Hagen solle sich keine Hoffnung darauf machen, er 'werde ihn irgendwie schonen. Hagen antwortete kurz seiner Tochter; aber als sie zu Hedin zurückkehrte, sagte sie ihm, daß Hagen keinen Vergleich wollte, und bat ihn, sich zum Kampfe zu rüsten. Das tun sie nun beide, sie gehen auf die Insel, und ihre Heere folgen. Da ruft Hedin den Hagen an als seinen Verwandten und bietet ihm einen Vergleich und viel Gold als Buße. Hagen antwortet: "Zu spät botest du das, wenn du einen Vergleich willst, denn nun habe ich Dainsleif das Schwert aus der Scheide gezogen, das die Zwerge machten, das eines Mannes Mörder werden soll, jedesmal daß es entblößt wird, und niemals verfehlt es einen Hieb, und die Wunde wächst nicht zu, die es schlägt." Da antwortet Hedin: "Du rühmst dich des Schwertes, aber nicht des Sieges, mir ist jede Waffe gut, die dem Herrn gehorcht." So begannen sie den Kampf, der der Kampf der Hjadninge genannt wird, und schlagen sich den ganzen Tag, und am Abend gingen die Könige zu ihren Schiffen. Aber Hild ging in der Nacht auf die Wahlstatt und weckte sie auf durch Zauberei, alle, die tot waren, und den anderen Tag gingen die Könige zum Kampfplatz und schlugen sich ebenso alle, die am vorigen Tag gefallen "waren. So ging dieser Kampf einen Tag nach dem anderen, daß alle Männer, die fielen, und alle Waffen, die auf den Kampfplatz lagen, zu Steinen wurden. Aber als es tagte, standen alle toten Männer auf und schlugen sich, und alle Waffen wurden neu. So ist es gesagt in den Gedichten, daß die Hjadninge so die Götterdämmerung erwarten.
Die Sage von Hetel und Hilde ist uns vom neunten bis zum vierzehnten
Jahrhundert in nordischen Ländern bezeugt und wurde also gern erzählt
und besungen. Ihre Größe und Wildheit macht das leicht verständlich.
Wir finden die Sage in der Skaldendichtung, in Anspielungen, bei Saxo
Grammaticus, in der isländischen Saga
und schließlich in Balladen. Sogar eine Ballade, die 1774 ein schottischer
Reisender auf den Shetlandinseln hörte, bewahrt eine Erinnerung daran,
vermischt sie allerdings mit anderen Erinnerungen z.B. mit solchen aus
den Liedern von den Nibelungen und von Hagbard und Signe. Genau stimmen
die anderen Berichte nicht immer mit denen von Snorri überein. Aber
die Abweichungen geben sich meist als Zutaten späterer Erzähler
leicht zu erkennen. Zum Beispiel hat Saxo, indem ihn die Erinnerung an
einen anderen Kampf verwirrte, den Kampf von Hedin und Hagen verdoppelt,
und er hat seine Erzählung mit Motiven aus dänischen Liebessagen
vermischt. Eine späte isländische Saga fabelt, die Göttin
Frena hätte den Kampf zwischen den Hjadningen heraufbeschworen, um
den Odhin zu versöhnen, dem sie die Treue gebrochen. Bei diesen beiden
Gewährsmännern sind Hagen und Hedin, wie viele Helden der isländischen
Saga, bevor sie sich verfeinden, Blutbrüder.
In dem Bericht von Snorri erscheint dem ersten Blick und auch vielen Forschern der ewige Kampf der Hjadninge als das Älteste und Mythische. Wer genauer zusieht, erkennt, daß in der Erzählung von diesem Kampf die unersättliche Kampflust der Wikinger sich zeigt und ihr Hang, eine alte einfache tragische Sage in das Phantastische zu erhöhen, in das Endlose zu erweitern. Im Bericht von Snorri ist außerdem manches sonderbar, er wirrt den Tod und die Versteinerung der Helden durcheinander und hat vergessen, daß ursprünglich die Seelen der Gefallenen, sie allein, in jeder Nacht, und nur nachts, weiterkämpfen. Die ganze Erzählung von dem ewigen Kampf ist eigentlich eine Erzählung für sich, hängt mit der Hildesage gar nicht zusammen und wurde erst im Nordischen, schwerlich vor dem elften Jahrhundert und wahrscheinlich in Island, mit der Hildesage verbunden. Auch die Geschichte von dem unheilbringenden Schwerte Hagens ist nicht heroisch, sondern eine der schönen und finsteren Erfindungen, die gerade die isländische Saga liebt, wir denken etwa an die Herwarasaga.
Trennen wir beides ab, so steht die Dichtung vor uns, daß Hedin die Hilde liebt, daß sie seine Liebe erwidert und ihrem Vater zum Trotz ihm folgt. Ihr Geliebter raubt sie, ihr Vater verfolgt das Paar, Vater und Geliebter kämpfen miteinander und fallen beide, sie bleibt einsam zurück. In dieser Gestalt ist die Dichtung der dänischen von Hagbard und Signe und der dänischen von Helgi und Sigrun sehr ähnlich. Sie hat wohl auch im Dänemark des neunten Jahrhunderts ihre Heimat und ist von dort nördlich nach Island, südlich nach Deutschland gewandert.
Da der Widsith die Namen von Hagen (Hagena), Hedin (Heoden) und Wate (Wada) unmittelbar nebeneinander nennt, ist es wahrscheinlich, daß die Anfänge der Hildesage aus der germanischen Zeit stammen. Widsith nennt auch die Reiche, die diese Fürsten beherrschten, doch sind deren Namen noch nicht befriedigend gedeutet. Die Ereignisse aus der Wikingerzeit hauchten der germanischen Sage neues Leben ein, und das ist das Leben, das wir kennen. In dem deutschen Gedicht ist der alte tragische Ausgang nicht wie im Nordischen in das Mythische und Endlose gesteigert, sondern, wie in dem jüngeren Hildebrandslied und in der späten Wielandsage, in das Freundliche und Versöhnliche umgewandelt, so wie es eben die Hörer des Dichters wollten. Außerdem ist die Sage bereichert und erweitert durch Frute, Horant und Wate.
Frute ist von diesen der unwesentlichste und hängt mit der Sage nicht organisch zusammen. Die Spielleute, denen ein freigebiger König immer willkommen war, haben einen der freigebigsten und reichsten - denn das war Frute - natürlich mit besonderem Wohlbehagen in ihre Dichtung eingefügt.
Der Name Horand klingt an das altenglische Heorrenda an -dieser Sänger hat den Deor aus der Gunst seines Herrn verdrängt -und an das nordische Hjarrandi. Im Nordischen ist Hjarrandi der Vater Hedins und erscheint auch einmal als ein Beiname des Gottes Odhin. Dieser Beiname scheint uns einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Sage von Horand zu liefern. Ursprünglich war der Name Hjarrandi, wie sein Klang zeigt, wohl der eines Sängers. Keiner aber war des Gesanges, seiner Zauberkraft und seiner betörenden Gewalt mächtiger als der nordische Odhin. Mit Zauber und Gesang gewann er sich widerstrebende Jungfrauen und machte sie seinem Willen gefügig, wie die Rind und wie die Gunnlöd. Dieser Art war gewiß auch einmal der nordische Inhalt der Horandsage. Bei Snorri ist dann Horand Hedins Vater, im Deutschen singt er im Auftrag seines Herrn, statt des singenden Gottes und des germanischen Sängers erscheint in der Gudrun der ritterliche Spielmann.
Wate in seiner unbändigen Kampflust, in der Vorbildlichkeit seines Heldentums, erinnert wieder an einen dänischen Helden, an den Starkad. Wie jener steht er als erprobter und ergrauter Krieger dem jungen König bei und hält auch seiner Gemahlin und seinen Kindern unverrückbar die Treue. Wie jener ist er unerbittlich in der Rache und erschlägt sogar die Kinder, damit sie nicht heranwachsen. Die Ähnlichkeiten reichen noch weiter, wie Starkad wurde Wate in späteren Sagen mit einem Wasserriesen verschmolzen, den die deutschen meeranwohnenden Stämme kannten. Dem deutschen Dichter der Gudrun erscheint dieser alte Held gar zu wild, und er hält ihn zurück und entreißt ihm seine Opfer, damit er nicht gar so vernichtend wüte. Er gibt auch seinem Wesen, wie wir gesehen haben, eine hübsche Kindlichkeit.
Ob der deutsche Dichter oder ob schon dänische Erzähler den Wate und Horand mit der Hildesage verbanden, läßt sich nicht entscheiden. Zugunsten des deutschen Dichters würde es sprechen, daß er überhaupt den Inhalt seiner Dichtung sehr geschickt erweiterte und steigerte, zugunsten des dänischen, daß die Helden alle dänische Helden sind.
Nun, da sich uns die Geschichte der Sage von Hilde und Hetel geklärt hat, wenden wir uns der von der Gudrun zu. Sie wiederholt das Hauptmotiv der Hildesage, die Entführung des Mädchens. In der Gudrun ist Hartmut der Entführer, Hetel der Verfolger, die List bei der Werbung ist abgestreift, Raub und Kampf stehen an ihrer Stelle, das Ende ist der Tod Hetels. Wir betreten hier also wieder den Boden der Heldendichtung und, wie wir bereits andeuteten, die Sage der Gudrun birgt reichere Schätze aus der alten Heldendichtung als die Sage der Hilde.
Es ist verkehrt, wenn man die Sage der Gudrun eine Doublette der Hildesage nennt. Denn einmal ist, wie wir eben zeigten, die Entführung in ihr ganz anders und viel heroischer geschildert und außerdem ist in dem Teile des Gedichtes, der Gudrun gilt, der Kern gar nicht die Entführung, sondern die lange und sorgfältig vorbereitete Rache für eine schwere Niederlage. Dieser Kern ist aber im wesentlichen, wenn auch die Folge der Ereignisse nicht ganz genau sich entspricht, auch der Kern der germanischen Sage vom Kampf um Finnsburg. Auch dort wird zuerst die Niederlage erzählt und hinterher nach langer Vorbereitung die Rache. Auch dort wird ein plötzlicher Überfall der Feinde beim ersten Aufleuchten des Morgens geschildert, auch dort verbindet sich die Geschichte der Kämpfe mit der Rückerobererung einer Frau, die der vorher siegreiche Feind entführte. Im Kampf um Finnsburg heißt die entführte Hildburg, und neben der deutschen Gudrun erscheint plötzlich als ihre Leidensgefährtin auch eine Hildburg. Am Schluß des Gedichtes reicht sie dem Hartmut, dem Fürst der Feinde, die Hand, wie die Hildburg der alten Sage eine Zeitlang dem Fürsten der Feinde als Gemahlin gehörte. Das letzte mag nur ein hübscher Zufall sein, aber er hat etwas Ermutigendes. Und vor allem: Der Kampf um Finnsburg tobte zwischen Dänen und Friesen, und in der Gudrun ist Hetel ein Däne und der Wülpenwert liegt im westlichen Friesland.
Wahrscheinlich also war der Anfang der Gudrundichtung ein germanisches Lied vom Kampf der Friesen und Dänen, und dies war dem Lied vom Kampf um Finnsburg nah verwandt.
Gudrun verhält sich zu ihren Werbern anders als ihre Mutter Hilde. Im Grunde wählt sie zwischen Hartmut und Herwig, und in der Dichtung, die unserer deutschen Gudrun als Quelle vorlag, wird sie bei der Werbung ihren Vater gar nicht gefragt, sondern selbst zwischen den Werbern entschieden haben. Eine Entscheidung dieser Art trafen aber gerade dänische Frauen: die Signe und die Sigrun. Wie Signe teilt Gudrun nun auch Leid und Glück mit ihren Jungfrauen, und sogar die Gerlint der Gudrun, über welche die gedemütigte Königstochter triumphiert, darf man mit der Mutter Signes vergleichen, in der Art, wie ihr Hagbard gegenübertritt. Sie will ja den Hagbard auf seinem letzten Weg verhöhnen, er aber fügt ihr einen noch wilderen Schmerz zu und bleibt der Sieger. An die Sigrun aber erinnert die Gudrun in ihrem Verhältnis zu Hartmut, insofern die Sigrun des zweiten Heldenliedes den Hödbrodd edelmütig tröstete, den sie zurückwies und der um ihretwillen fiel. In dem deutschen Gedicht ist das Verhältnis von Gudrun zu Herwig und Hartmut nicht ganz klar geschildert, besonders die Bemerkungen über Herwig widersprechen sich, bald erscheint er als mächtiger König, bald als ein Held niedriger Herkunft. Vielleicht war in der Dichtung, aus der unser deutscher Spielmann schöpfte, die Gudrun dem Hartmut, ihr Vater dem Herwig freundlich gesinnt.
Die im Leiden unsäglich stolze Gudrun erinnert uns an jene Riesenmädchen, die der habgierige Frodi knechtete, und ihre Verschlagenheit in der Rache ist, wie wir wissen, die Verschlagenheit der germanischen Frau. Die Gerlint hat der deutsche Dichter gar zu sehr in das Märchenhafte gezogen. Die Szene, in der Gudrun als Wäscherin von Bruder und Bräutigam getröstet wird, wiederholen die Balladen von der geraubten Schwester und ihrer Befreiung durch den Bruder; dabei bleibt aber ungewiß, ob diese Balladen der Gudrun entsprangen, oder ob umgekehrt der Dichter der Gudrun aus ihnen schöpfte.
Die Sage, die dem dänischen König Siegfried von Morland galt, kennen wir nicht genau, und ebenso ist es unsicher, aus welcher dichterischen Überlieferung Herwig stammt, ob er wirklich einmal ein nordischer Seekönig, ein Wiking war, der sich kühn und gewalttätig die Braut raubte.
Eine genauere Kenntnis und eindringendere Untersuchung der dänischen Heldendichtung würde wohl noch manches neue Licht bringen - möchte sie uns doch Axel Olrik, der Berufenste, schenken! Dann würde auch die Vorgeschichte der deutschen Gudrun sich noch in vielem aufhellen lassen, und man könnte das Material abgrenzen, das der deutsche Dichter kannte.
Doch das Wesentliche dieser Hinweise wird, wie wir hoffen, bestehen bleiben. Aus germanischen und dänischen Überlieferungen ist die Gudrun gewachsen, und im deutschen Mittelalter hat sie ein Dichter umgedichtet, der den Spielleuten nahestand; alles in allem mit großer Kunst des Aufbaues und der Charakterisierung, aber dem Geschmack seiner Hörer gegenüber gar zu nachgiebig.
Unsere Gudrun ist in Bayern niedergeschrieben worden. Ob auch ein Bayer die Gedichte von Hilde und Gudrun, die von Dänemark und Niederdeutschland her rheinaufwärts wanderten, erweitert, verbunden und verschmolzen hat? Wir wissen es nicht. Bekannt ist uns nur, daß ein rheinischer Dichter aus dem ersten Drittel es zwölften Jahrhunderts, der Pfaffe Lamprecht, der allerdings vieles durcheinanderrührt, noch den tragischen Ausgang des Kampfes um Hetel und Hilde kennt. Doch er verlegt diesen Kampf auf den Wülpenwert, der doch in dem späteren Gedicht der Schauplatz des Kampfes um die Gudrun war. Namen aus der Gudrun sind uns dann in Bayern seit dem zwölften Jahrhundert bezeugt.
Die Zeitgenossen haben die Gudrun nicht so geliebt und geschätzt wie wir. Wahrscheinlich ist sie ihnen nicht bunt und abenteuerlich genug gewesen, zu fest gefügt und gerade durch ihren alten heroischen Inhalt doch zu eintönig; sie liebten wohl nicht diese sich ewig wiederholenden und im Grunde einander so ähnlichen Entführungen und Kämpfe. Erst im neunzehnten Jahrhundert haben sich die Augen für die Kunst der Gudrun geöffnet; seine Forscher haben freilich lange Zeit hindurch ihren heroischen Gehalt überschätzt, ihre mittelalterliche Art verkannt.
Nun hat auch unsere Wanderung durch die Heldendichtung des deutschen
Mittelalter, soweit sie außerhalb des Nibelungenliedes liegt, glücklich
ein Ende. Es war oft ein beschwerlicher Weg, und er führte durch
allzu dichte Wirrnis der Abenteuer. Wie mühsam aber wäre die
Fahrt erst geworden, hätten wir unsere Leser durch alle Schlachten
und durch alle ärmlichen Erfindungen der Epen von Dietrich von Bern
oder durch alle Erlebnisse des Wolfdietrich geschleppt. So fanden wir
in der bunten Fülle der Geschichten, in der kindlichen Einfalt und
Unschuld des Märchens und der Legende und in der heiteren Freude
am Fabulieren reichen Ersatz für die Verluste im Heldenhaften. Wie
froh ist doch das Mittelalter über seine Mären, und wie gern
und viel und hübsch hat es manchmal erzählt, dieselbe Zeit,
die man immer noch die finstere nennen hört, und die so viel bunter,
heiterer und kindlicher war als die strenge und unbarmherzige Zeit der
Völkerwanderung. Es war natürlich, daß in diesem Mittelalter
die Heldensage viel von ihrem heroischen Charakter verlor. Seltsam erscheint
es uns freilich, daß in unserer Überlieferung gerade ein Geistlicher
als erster den Weg geht, der von der Dichtung, die stählen und hart
machen will, führt zu der anderen, die nur die Unterhaltung liebt.
Unter der bunten Decke der mittelalterlichen Fabeleien zogen wir aber
manchmal noch das alte Heldentum hervor und erkannten, daß es in
manchen Helden und Heldinnen, wie im Dietrich von Bern und in der Gudrun,
rein und groß blieb wie in den alten Tagen, ja daß es sich
läuterte. Bei der Gudrun hat sich unsere Kenntnis der alten Sagen
und Lieder sogar bereichert.
Quelle: Heldensagen, Genf 1996