König Rother
Die Geschichte von König Rother erzählt uns am ausführlichsten ein deutsches Spielmannsgedicht aus der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts. Wir geben im Anschluß an Ludwig Uhland und Friedrich Vogt seinen Inhalt wieder:
Am Westmeere sitzt König Rother in der Stadt zu Bare (Bari in Apulien). Er sendet Boten, die um die Tochter des Königs Konstantin zu Konstantinopel für ihn werben sollen. Als sie hinschiffen wollen, heißt er seine Harfe bringen. Drei Leiche (Spielweisen) schlägt er an; wo sie diese in der Not vernehmen, sollen sie seiner Hilfe sicher sein. Jahr und Tag ist um, die Boten sind nicht zurück. Konstantin, jede Werbung verschmähend, hat sie in einen Kerker geworfen, wo sie nicht Sonne noch Mond sehen. Frost, Nässe und Hunger leiden sie; mit dem Wasser, das im Kerker steht, laben sie sich. Auf einem Steine sitzt Rother drei Tage und drei Nächte, ohne mit jemand zu sprechen, traurigen Herzens seiner Boten gedenkend.
Auf den Rat Berchters von Meran, Vaters von sieben der Boten, beschließt er Heerfahrt, sie zu retten oder zu rächen. Das Heer sammelt sich; da sieht man auch den König Alprian, den kein Roß trägt, mit zwölf riesenhaften Mannen daherschreiten; der grimmigste unter ihnen, Widolt mit der Stange, wird wie ein Löwe an der Kette geführt und nur zum Kampfe losgelassen. Bei den. Griechen angekommen, nimmt Rother den Namen Dietrich an. Er läßt sich vor Konstantin auf die Knie nieder; vom übermächtigen König Rother geächtet, suche er Schutz und biete dafür seinen Dienst an. Konstantin fürchtet sich, die Bitte zu versagen. Durch Pracht und Übermut erregen die Schützlinge Staunen und Furcht. Den zahmen Löwen, der von des Königs Tischen das Brot wegnimmt, wirft Alprian an des Saales Wand, daß er zerschmettert wird. Wie leid es dem König ist, er rührt sich nicht. Rother verschafft sich, nach Berchters Rat, durch reiche Spenden großen Anhang.
Da klagt die Königin, daß ihre Tochter dem versagt worden, der solche Männer vertrieben. Die Tochter selbst möchte den Mann sehen, von dem so viel gesprochen wird. Am Pfingstfeste, wo sie mit ihren Jungfrauen zu Hofe kommt, gelingt ihr dies nicht vor dem Gedränge der Gaffer um die glänzenden Fremdlinge. Als es in der Kammer stille geworden ist, geht ihre Dienerin Herlind, Rother zu ihr zu bescheiden. Er stellt sich scheu, läßt aber seine Goldschmiede eilends zwei silberne Schuhe gießen und zwei von Golde. Von jedem Paare schickt er der Königstochter einen, beide für denselben Fuß. Bald kehrt Herlind zurück, den rechten Schuh zu holen und den Helden nochmals zu laden. Jetzt geht er hin mit zwei Rittern, setzt sich der Jungfrau zu Füßen und zieht ihr die Goldschuhe an. Dabei fragt er sie, welcher von ihren vielen Freiern ihr am besten gefalle. Sie will immer Jungfrau bleiben, wenn ihr nicht Rother werde. Da spricht er: "Deine Füße stehen in Rothers Schoß." Erschrocken zieht sie den Fuß zurück, den sie in eines Königs Schoß gesetzt. Gleichwohl zweifelt sie noch. Sie zu überzeugen, beruft er sich auf die gefangenen Boten.
Darauf erbittet sie von ihrem Vater, als zum Heil ihrer Seele, die Gefangenen baden und kleiden zu dürfen. Des Lichtes ungewohnt, zerschunden und verschwollen, entsteigen sie dem Kerker. Der graue Berchter sieht, wie seine schönen Kinder zugerichtet sind; doch wagt er nicht zu weinen.
Da spricht einer der Gefangenen zum anderen. "Sahst du den Greis da stehen, mit dem schönen Barte, der mich so wunderbar aufmerksam anschaute. Er wandte sich um und rang seine Hände, er wagte nicht zu weinen und zeigte doch die schmerzlichste Gebärde. Wie, wenn der gnädige Gott ein großes Zeichen tun will, daß wir von hinnen kommen? Fürwahr, Bruder, es mag wohl unser Vater sein." Da lachen sie beide voll Freude und voll Leid. Als sie darauf an sicherem Orte, wohlgekleidet, am Tische sitzen, ihres Leides ein Teil vergessend, schleicht Rother mit der Harfe hinter den Vorhang. Ein Leich erklingt. Welcher trinken wollte, der gießt es auf den Tisch; welcher Brot schnitt, dem entfällt das Messer. Vor Freuden sinnlos, sitzen sie und horchen, woher das Spiel komme. Laut erklingt der andere Leich; da springen ihrer zwei über den Tisch, grüßen und küssen den mächtigen Harfner. Die Jungfrau sieht, daß es König Rother ist.
Fortan werden die Gefangenen besser gepflegt; sie werden ledig gelassen, als der falsche Dietrich sie verlangt, um Ymelot von Babylon zu bekämpfen, der mit großem Heere gegen Konstantinopel heranzieht. Nach gewonnener Schlacht wird Dietrich mit den Seinigen zur Stadt vorangesandt, um den Frauen den Sieg zu verkünden. Er meldet aber, Konstantin sei geschlagen und Ymelot komme, die Stadt zu zerstören. Die Frauen bitten ihn, sie zu retten, und er führt sie zu seinen Schiffen. Als die Königstochter das Schiff bestiegen, stößt er ab; Rother entdeckt sie und fährt, begleitet von dem Segen der Königin, die ihren Lieblingswunsch erfüllt sieht, nun ihre Tochter des gewaltigsten Königs Frau geworden, in die Heimat.
Nun wird Rothers junge Gattin durch einen listigen Spielmann wieder zu ihrem Vater heimgebracht und Rother fährt mit seinen Mannen wiederum nach Konstantinopel und verbirgt sie in einem nahen Walde, während er selbst als Pilger verkleidet in die Stadt zieht. Dort kommt er gerade noch zur rechten Zeit, um Zeuge zu sein, wie seine Gattin gezwungen wird, dem Sohne jedes heidnischen Königs, den er besiegt hatte, die Hand zu reichen. Beim Hochzeitsmahle steckt er ihr einen Ring zu, an dem sie ihn erkennt; aber auch den anderen Anwesenden bleibt er nicht verborgen. Zum Tode verurteilt, wählt er sich selbst die Richtstätte vor jenem Walde, wo die Seinen versteckt liegen. Im entscheidenden Augenblick brechen die Getreuen hervor und richten ein furchtbares Blutbad unter den Heiden an. Konstantin demütigt sich vor Rother, und dieser kehrt mit der Gattin und seinen Mannen abermals heim.
Vollständig ist der König Rother nur in einer Handschrift erhalten, die aus dem Gebiet des Mittelrheins stammt. Kleine Bruchstücke einer anderen älteren Handschrift weisen nach Bayern. Die Darstellung in dieser ist weniger breit, durch formelhafte Wendungen und Reime nicht so aufgeschwellt und frischer und derber, persönlicher und ursprünglicher. Deshalb glaubt die Forschung mit Recht, daß das Gedicht von Rother von Bayern nach dem Rhein wanderte. Für die bayerische Heimat spricht auch, daß der Dichter bayerische Fürsten etwas aufdringlich rühmt und daß Erinnerungen an den Kreuzzug des Bayernherzogs Welf (1101) in den Teilen des Gedichtes nachklingen, die das Auftreten Rothers am Hof des Konstantin schildern.
Im Rother ist der letzte Teil, die Entführung der jungen Gattin durch einen Spielmann und ihre abermalige Gewinnung durch Rother offenbar der Zusatz eines Spielmanns, der nach Art der Erzähler für das Volk den Stoff wiederholte, an dem die Hörer schon einmal ihre Freude gehabt. Wir kennen auch die Quelle, aus der dieser erweiternde Spielmann schöpfte, es ist die Sage von Salman und Morolf, die eigentliche und bezeichnendste Spielmannsdichtung des Mittelalters. Sie kann sich in der Wiederholung und Variierung von Entführungsgeschichten nicht genug tun und preist dabei natürlich die Listen, Kühnheiten und Genialitäten der Spielleute gebührend. Die Salomonsage kam aus dem Orient ins Abendland und hat durch Vermittlung der Spielleute manche mittelalterliche Dichtung umgestaltet, von den alten Heldendichtungen außer dem König Rother die von Hetel und Hilde.
Die Thidreksaga, die uns die Sage von Rother ebenfalls erzählt, nur daß der Held bei ihr den Namen Osantrix führt, hat nun wirklich die angehängte Entführung des deutschen Gedichtes nicht und steht der urprünglichsten Form der Rothersage also näher. Der Thidreksaga fehlen außerdem Berchter von Meran und seine Söhne. Auch diese gehören nicht in die Geschichte von Rother, sondern in die des Dietrich von Bern. Berchter stammt aus Meran (d.h. aus Dalmatien und Istrien, das ist in der Sage das Stammland der Goten) und ist dem Hildebrand verwandt, ein im Kampf ergrauter Recke, der dem vertriebenen und geliebten König die Treue hält und ihm gern alles opfert, was er besitzt, auch seinen besten Schatz: seine Söhne. Da Rother sich als vertriebener König ausgibt, und sich nach dem vertriebenen König der germanischen Heldendichtung, nach Dietrich nennt, lag es nahe, die Gestalt Berchters von Meran und seiner Söhne mit ihm zu verbinden; besonders empfahl sich das für einen Spielmann. Denn durch diese o Einfügung und die mit ihr verbundene, in der damaligen Kunst sehr geliebte Wiedererkennungsszene gewann er die ihm erwünschte Sentimentalität und Rührung für seine Geschichte. Zugleich konnte er durch die Ausmalung von Rothers musikalischen Künsten wirksame Reklame für die eigene Kunst machen. Noch ein anderer König der Germanen, den die Seinen von seinem Erbe vertrieben hatten, hieß Dietrich, es war der fränkische Wolfdietrich. An ihn hat sich, wie wir bald erfahren werden, vor allem die Person Berchters und seiner Söhne gehängt.
In der Thidreksaga verläuft nun die Geschichte von Rother so: Osantrix wirbt um Oda, die Tochter des Königs Milias von Hunnenland. Er schickt zuerst sechs Ritter, die wirft Milias ins Gefängnis; dann schickt er seine Neffen; denen widerfährt das gleiche. Nun kommt er selbst mit seinen Mannen und vier Riesenbrüdern. Er bittet den König Milias um Schutz vor Osantrix, und als dieser ihn dem zu gewähren zaudert, tritt Aspilian, einer der Riesen, vor Wut bis an die Knöchel in die Erde. Einen anderen Riesen Wiedolt hatte man wie im deutschen Rother schon vorher an die Kette legen müssen. Milias erzürnt sich; da schlägt ihn Aspilian mit der Hand nieder, und Osantrix und seine Mannen erschlagen alle, die sie in der Stadt finden, befreien die Gefangenen und lassen sich Oda bringen. Nun folgt die Geschichte mit dem goldenen und silbernen Schuh. Osantrix gibt sich zu erkennen, versöhnt sich mit Milias und führt die Braut heim. Der Bericht, an den die Thidreksaga sich hielt, erzählte anscheinend mit besonderer Genugtuung die Kraftstücke und die Wildheit der riesischen Begleiter. Nachdem wir bei Waltharius ähnliches kennengelernt, dürfen wir vermuten, daß diese Kraftstücke und die Riesen selbst eine Zutat des zehnten Jahrhunderts sind.
Die Heimat der alten Rothersage ist, wie wir schon andeuteten, wahrscheinlich
die Lombardei; es gibt nämlich einen longobardi-schen König
Rother, und die longobardische Sage von Authari steht der von Rother,
wenn wir uns diese ohne Riesen, ohne Berchter und ohne das letzte Anhängsel
vorstellen, recht nah. Es ist eine Werbungssage, in welcher der königliche
Werber, nachdem er von der Schönheit seiner Braut gehört, selbst
vor ihr erscheint, den anderen verheimlicht er, daß er selbst kam,
der Jungfrau, die er begehrt, gibt er sich in jugendlicher Tollkühnheit
zu erkennen. Das Motiv von dem goldenen und silbernen Schuh ist novellistisch
und von den Spielleuten wohl ausgestaltet. Die Szene selbst, in der Rother
sich vor der Königstochter enthüllt, trägt sogar noch im
deutschen Spielmannsgedicht die Kennzeichen germanischer Kunst und ihres
dramatischen Lebens. Da Authari um eine bayerische Königstochter
wirbt, so wäre, gibt man die lombardische Heimat des Rother zu, leicht
zu verstehen, warum die Sage von den Longobarden zu den Bayern wanderte.
In der Lombardei selbst kann sie auch die ersten grotesken Zutaten zu
sich genommen haben, denn dies Land war, nachdem seine heimische Kunst
verfiel, den Nachfahren der römischen Mimi, den Spielleuten, besonders
ausgesetzt; und schon den Peredo führte die lombardische Sage nach
Konstantinopel und rühmte ihm wie dem Asprian die Bezwingung eines
Löwen nach. Die Geschichte vom Riesen Adelgis ist ja auch longobardisch.
Die Entwicklung des Rother hat sich uns nun so dargestellt: Eine longobardische
"Werbungssage aus dem siebenten oder achten Jahrhundert, wohl in
Form eines Liedes, war der Anfang. Sie feierte die Kühnheit des königlichen
Jünglings und schilderte die Scham und den Stolz der Spielleute,
die dann eine Reihe von Riesen in das Gefolge des Königs aufnahmen,
die Szene, in der sich der Werber zu erkennen gibt, novellistisch und
anmutig ausgestalteten und auch die Vorgeschichte der Werbung aufputzten
und bereicherten. Dann wanderte das Gedicht nach Bayern und weiter nach
Deutschland nordwärts herauf, dabei änderten sich seine Namen.
In dieser Gestalt etwa bringt es uns die Thidreksaga. In Bayern aber erweiterte
es sich, wiederum die Spielleute dehnten es, sie fügen den Bercher
hinzu und verdoppeln mit Hilfe der Salomonsage die Entführung der
Frau. So vollendete sich das deutsche Spielmannsgedicht von König
Rother. Viel Germanisches ist auch dieser Dichtung nicht geblieben; sie
ist ganz und gar Eigentum der Spielleute geworden. Aber sie ist in ihrer
Art wiederum ein Beispiel, wieviel Erzählungsstoff auch in den alten
germanischen Heldenliedern schlummerte, und wie dieser, wenn nur die Leute
ihn erkannten, die das Erzählen um des Erzählens willen betreiben,
aufleben und sich vertreiben kann. In Werbungs- und Entführungssagen
haben dann ja gerade die Spielleute geschwelgt und sie allzugern wiederholt
und vervielfältigt. Wieviel fremde, antike und orientalische Zutaten
sie aber auch ausschmückend hinzufügten, den Anfang und den
Grund dieser Werbungsgeschichten zeigt doch die germanische Heldendichtung.
Quelle: Heldensagen, Genf 1996