§. 8. Religiöse Weltvorstellung des Scandinavischen Stammes in Beziehung auf die germanische Sage überhaupt.
Die Religion als die einfachste Anschauung des gesammten Lebens enthaltend schließt uns zunächst die eigenthümliche Weise auf, in welcher der Geist eines Volkes die Idee erfaßt, weshalb der Grundton seiner Mythen nothwendig auch in seine Sagen hinüberklingt und Baldurs Tod allerdings als Typus des Mordes von Sigfrid, Ragnarokur als Vorbild der Nibelungennoth [Nibelungennot] genommen werden kann. Die Organisation der Nordischen Götterwelt und die Entwickelung derselben ist im Allgemeinen folgende.
Aus dem anfänglichen grundlosen Einen, worin gestaltlos aller Stoff zum Weltbau liegt, tritt die Entzweiung des Heißen und Kalten in den sich entgegengesetzten Welten von Muspelzheimer und Niflheimer hervor, welche sich bis zum Riesen Ymer formirt [formiert], aus dessen Leibe Othin das kosmische Universum bildet. Othin ist die Einheit alles Daseins und daher der Unvergängliche und Belebende. Neben ihm sind zunächst die in Asgard wohnenden Asen, in denen Thor das Streben nach Außen, die Naturgewalt überhaupt, Balldur aber als der gute und milde, innere und äußere Schönheit vereinende, mehr das Ethische vorstellt. Wie diese Beiden, stehen alle andere Asen oder Götter in Gegensatz zu einander mit Ausnahme des Loki, welcher das Negative überhaupt bezeichnet, so daß er als allem Dasein entgegengesetzt in der Natur zerstörend, im Geistigen aber als die vernichtende List der Bosheit erscheint. Wenn die Asen Materielles und Ideelles in sich vereinen, so sind die Vanen reine Idealität, eine Vorstellung der in sich unendlichen und allseitig beweglichen Phantasie, weshalb ihnen die Götter in Vanaheim den verständigen Häner zum ordnenden Herrscher gesetzt haben. Von den Vanen stammen die Alfen (Elfen), welche sich in Licht- und Schwarzelfen theilen, von denen jene zarte Geister der Luft, diese der Gewässer sind. - Auf der anderen Seite hat sich auch die rohe Naturgewalt einseitig fortgebildet, wie zunächst in den von Ymer stammenden Hrymthursen oder Reifriesen, sodann in den Joten oder Jetten, welche, Männer und Weiber, in Jotunheim wohnen und nicht blos von riesiger Kraft, sondern auch der Prophezeihung und Hexerei kundig sind. Von ihnen stammen die Zwerge, welche den Alfen gegenüber, unter der Oberfläche der Erde als Erd -, Stein - und Metallzwerge im Dunkeln (Myrkonheim) schaffend, viele künstliche Arbeit, besonders Schmiedewerke vollbringen. Die Menschen aber, welche in Mitgard oder Manheim mitten in der Welt wohnen, sind liebend von den Asen als Mann und Weib aus einer Esche und Erle geschaffen, welche sie am Ufer des Meeres fanden. Sie sind ohne Einseitigkeit ein Gleichbild der Asen, ja Othin's selbst und vermögen durch eigene Bestimmung in der Mitte und Einheit sich zu erhalten oder in die kämpfenden Gegensätz der Welt sich zu verlieren, so daß sie sterbend entweder in die Nacht der öden Hel, oder in Walhall zu den Göttern versetzt werden, mit ihnen als Einheriar gegen den Weltuntergang zu streiten. Das Leben der Welt selbst ist in der von der Tiefe zur Höhe gewachsenen Esche Ygdrasill vorgestellt, an welcher Alles, die wurzelnagende Schlange Nidhogr, der Blätterfressende Hirsch, das hin und her laufende Eichhörnchen, der Urdarbrunnen, die Nomen und Mimers weissagendes Haupt auf die Zeit hindeutet. Loki, welcher den fürchterlichen Wolf Fenrir und die Erdumgürtende Schlange Jormungardr zum Verderben der Götter und Menschen gezeugt hat, kommt als der Böse nothwendig mit Balldur als dem Guten in Conflict [Konflikt] und wird durch den blinden Asen Höder die tückische Ursach seines Todes, welchen alle Götter schmerzlich beklagen und den Geliebten nicht von der Hel zurück erlangen können. Nach schweren Vorzeichen bricht nun die Dämmerung der Götter, Ragnarokur, an. Sie fallen sammtlich im Kampf mit den aus Muspellzheimer losbrechenden feindlichen Gewalten und stirbt die Welt in einem großen Brande. Aber dieser Tod ist keine Auflösung in Nichts, sondern Reinigung der Welt vom Bösen, welches ganz und gar vergeht. Alles Gute aber, Asen und Einheriar, wird durch den furchtlosen Othin wiedergeboren, so daß ein neuer Himmel und eine neue Erde entstehen.
Dieses System ist enthalten in den Liedern der ältern Edda, gesammelt von Sänmund Sigfuson, st. 1133. Herausgegeben 1787, und 1813. Kopenhagen 4. Eine Handausgabe Edda Saemundar hinus froda besorgten Rask und Afzelius, Stockholm 1818. 8. Die jüngere prosaische Edda, welche nicht sowohl die Glaubenslehren als nur die Göttergeschichte darstellt, wurde von Snorro Sturles son erm. 1241, verfaßt. Herausg. von P. Resenius. 1665. Havniae. 4. Ueberletzt von J. Rüh's mit einer Einleit. Berlin, 1812, 8. Vgl. P. I. Stuhr's Abhandlungen über Nordische Altenhümer. Berlin, 1817. 8. S. 54 - 126. und Mone's Geschichte des Heidenthums. Th. I. 1822, pag. 216. sqq. Ueber die Zwerge, Riesen und Recken ist der Anhang unseres Heldenduches nachzusehen, in welchem die alte heidnische Vorstellung der Welt noch deutlich durchschimmert. - Ueber das Verhältnis; der Scandinavischen Religion zur Celtischen einerseits und zur Finnischen andererseits, indem jene als das eine Extrem die gelehrte, diese als das andere die unmittelbar magische ist.
Quelle: Das
Heldenbuch und die Nibelungen, Karl Rosenkranz, Halle 1829,
S. 8ff
© digitale Version www.SAGEN.at