DER STOCK IM EISEN
Die Erzählung davon ist sehr wunderlich, wiewohl sie bei dem gemeinen Mann und bei glaubwürdigen Leuten gar genau miteinander übereinstimmet. Es ist bekannt, daß, wo jetzt diese große und berühmte Stadt Wien stehet, in vorigen Zeiten ein ungeheurer Wald befindlich gewesen, in welchem das sogenannte Tier Hyaena oder Menschenfresser sich soll aufgehalten haben. Von demselben hat diese Stadt mit Verwechselung des einzigen ersten Buchstabens den Namen bekommen, zum Denkzeichen aber des in derselben Gegend gestandenen Waldes ist ein abgehauener Stock von einem Baum übriggelassen worden, welcher annoch, in einem eisernen Gitter verwahret, gezeiget wird. Es hat sich aber einsmals zugetragen, daß ein Schlösserjunge Schläge halber von seinem Meister entlaufen und einige Zeit in der Irre herumgegangen, weil er die ihm aufgetragene Arbeit nachlässig verrichtet hatte. Diesem begegnete ohngefähr ein Mann in der Gestalt eines Meisters von eben dieser Profession, mit einem Schurzfelle umgürtet, welcher ihn um die Ursache seiner Traurigkeit befragte. Er trug kein Bedenken, diesem vermeinten Meister sein Anliegen zu offenbaren, weil er etwa bei demselben anderweitige Dienste zu bekommen verhoffte. Der vermummte Handwerksmann gab ihm darauf zur Antwort: «Wenn du in meine Dienste treten willst, so sollst du von mir ein Schloß um den Stock, welcher das Wahrzeichen dieser Stadt ist, verfertigen lernen, das weder dein Meister noch ein anderer dieser Kunst Verständiger wird aufmachen können und wodurch du dir auf die späte Nachwelt einen Namen und Andenken erwerben wirst.» Der unbesonnene Junge nahm das Geding alsobald an und unterschrieb sich auf Verlangen dieses unbekannten Meisters mit seinem eigenen Blute, welcher ihm um die elfte Nachtstunde wieder an diesen Ort beschieden. Nachdem er sich nun allda richtig eingestellet, fand er den Meister mit gewöhnlichen Werkzeugen bei einem Kohlenfeuer, allwo sie vermöge ihres Pakts das Schloß und den Ring um besagten Stock verfertiget haben. Die Zeit aber, in welcher der Junge eigentlich des Meisters sein sollte, war auf zehn Jahre bestimmt. Hiernächst bekam er von ihm etwas Geld zu seinem Unterhalt, worauf ihm derselbe nebst dem Feuer und Schlösserinstrumenten aus den Augen gekommen. Der Junge ging des folgenden Tages zu seinem vorigen Meister und fragte ihn, ob er sich das in seiner Abwesenheit von ihm verfertigte Schloß zu öffnen getraue, mit dem Zusatz, daß, wenn er solches täte, er ihn für einen rechtschaffenen Meister erkennen wollte. Der Meister wußte zwar nicht, was der Junge mit diesem Vortrag sagen wollte, ging aber dennoch mit ihm hin, um zu sehen, was es mit der Sache für eine Beschaffenheit habe. Und da er mit Erstaunen eine Arbeit zu sehen bekam, welche seiner Kunst ganz fremde schien, mutmaßte er gleich, daß es nicht natürlich damit zugehen müßte und beschloß alsobald, es der Obrigkeit anzuzeigen. Der Junge vermerkte solches und machte sich eilig aus dem Staube, weil er besorgen mußte, daß man ihn desf alls scharf befragen oder wohl gar mit einer Strafe belegen würde. Inzwischen hatte er gleichwohl durch diese seine Arbeit, welche er mit dem unbekannten Meister verfertiget, das ganze Schlösserhandwerk beschämt gemacht, zumalen bis diese Stunde keiner von den erfahrensten Künstlern, welche aus ändern Ländern herzugekommen und Hand angelegt haben, dieses Schloß zu öffnen vermögend gewesen.
Quelle: Otto von Graben zum Stein, Unterredungen
von dem Reiche der Geister, Leipzig 1731, II, S. 248 - 250 (nach Will-Erich
Peuckert, Die Sagen der Monathlichen Unterredungen Otto von Grabens zum
Stein, Berlin 1961, S. 154 f., Nr. 101)
aus: Historische Sagen, Leander Petzoldt, Schorndorf 2001, Nr. 49, S.
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