Der Apfelschuß.
Da fuhr einmal der Landvogt Gessler nach Uri, steckte einen Stecken unter die Linde zu Uri, legte einen Hut auf den Stecken, stellte einen Knecht dazu und gebot, jedermann sollte sich vor dem Hute neigen, als wäre er selber da; wer es nicht täte, den wollte er schwer bestrafen.
Nun war ein redlicher Mann, der hieß Tall (Thäll, Teil). Er hatte auch mit Stoupacher und seinen Gesellen geschworen und ging mehrere Male vor der Stange auf und ab, wollte sich aber nicht neigen. Der Knecht verklagte ihn bei seinem Herrn, dieser ließ ihn kommen und befragte ihn wegen seines Ungehorsams. Der Tall erwiderte: "Es ist von ungefähr geschehen. Ich habe nicht gewußt, daß es Euer Gnaden so hoch an sehen würden. Wäre ich witzig, so hieße ich anders und nicht der Tall!" Der Tall aber war ein guter Schütze; er hatte hübsche Kinder, die ließ der Herr kommen und zwang den Tall, daß er einem seiner Kinder einen Apfel vom Haupte schoß. Er selbst legte dem Kinde den Apfel auf das Haupt. Als der Tall sah, daß Widerstand unmöglich war, steckte er einen Pfeil in seinen Göller, den anderen nahm er in die Hand, spannte die Armbrust, bat Gott, daß er sein Kind behütete und schoß diesem den Apfel vom Haupte. Der Herr fragte, was er mit dem zweiten Pfeile gemeint hätte. Der Tall sorgte für sein Leben und hätte gern eine Ausrede genommen, der Herr aber ließ nicht ab und sprach: "Sage mir die Wahrheit, ich will dich deines Lebens sichern und nicht töten!" Da sprach der Tall: "Da Ihr mich meines Lebens versichert habt, so will ich Euch die Wahrheit sagen. Wäre mir der Schuß fehlgegangen, so hätte ich mit diesem Schusse Euch oder einen der Euern erschossen!" Der Herr antwortete: "Es ist wahr, ich habe dich des Lebens versichert und will dich nicht töten, aber an einen Ort bringen lassen, wo du weder Sonne noch Mond jemals wiedersehen sollst."
Da brachten ihn die Knechte in einen Nachen, legten sein Schießzeug
aufs Hinterteil des Schiffes und fuhren ab. Als sie nach Axen kamen, brach
ein so heftiger Sturm los, daß sie alle fürchteten, sie müßten
ertrinken. Nun sprach einer unter ihnen: "Herr, Ihr seht wohl, wie
es uns gehen will, darum bindet denTall los; er ist ein starker Mann und
kann gut fahren. Heißt ihn, daß er uns helfe, damit wir von
hinnen kommen!" Der Herr sprach zu Tall: "Willst du dein Bestes
tun, so will ich dich losbinden, daß du uns allen hilfst?"
Der Tall sprach: "Ja, Herr, gern!", stellte sich ans Steuer
und fuhr, blickte aber immer nach seinem Schießzeug. Als sie an
die zeTeilen blatten' kamen, rief er sie alle an und sprach, sie
sollten mit Macht ziehen; kämen sie vor die Platte hin, so hätten
sie das Böse überstanden. So zogen sie alle mit Macht, aber
bei der Platte lenkte er den Nachen zu ihr hin, ergriff sein Schießzeug,
sprang auf die Platte, stieß den Nachen zurück und ließ
die anderen auf dem See treiben. Dann eilte er durch die Berge, so schnell
er konnte, und lief durch Schwyz hin bis gen Küßnacht in die
hohle Gasse. Hier kam er vor dem Herrn an, und als dieser daherritt, stellte
er sich hinter eine Staude, spannte seine Armbrust, erschoß den
Herrn und lief wieder durch die Berge nach Uri heim.
Quelle: Wilhelm Vischer,
Die Sage von der Befreiung der Waldstätte nach ihrer allmählichen
Ausbildung, Leipzig 1867, S. 33 ff. (Das weiße Buch von Sarnen,
1470).
aus: Leander Petzoldt, Historische Sagen, Mit Anmerkungen und Erläuterungen,
Band II, Baltmannsweiler 2001, Nr. 607, S. 128 f.