Gessler.

In diesen Zeiten waren Edelleute im Thurgau und im Aargau, die auch gern große Herren gewesen wären. Sie baten die Erben um Verleihung der Vogteien und um die Länder und gaben gute Worte, sie wollten des Reiches getreue Vögte sein. Da wurde einer mit Namen Gessler Vogt zu Uri und zu Schwyz, einer von Lan-denberg Herr zu Unterwaiden. Diese Vögte sollten die Länder in Treuen bevogten; sie taten es aber nicht. Hatten die Länder zuvor hochmütige Vögte gehabt, so waren diese noch übermütiger, taten den Leuten großen Drang an, beschatzten den einen hier, den anderen da, trieben großen Mutwillen und gingen Tag und Nacht mit dem Gedanken um, wie sie die Länder vom Reiche in ihre eigene Gewalt bringen möchten. Sie ließen auch Burgen und Häuser machen, von denen sie über die Länder wie über eigene Leute herrschen wollten. Und wo einer eine hübsche Frau oder eine hübsche Tochter hatte, da nahmen sie sie ihm und behielten sie in den Häusern, die sie gebaut hatten, so lange es ihnen beliebte, und wer etwas dazu redete, den fingen sie, beschatzten ihn und nahmen ihm, was er hatte.

Der Vogt von Landenberg auf Samen vernahm, daß in Melchi einer wäre, der ein hübsches Gespann Ochsen hätte. Er schickte einen Knecht hin, sie zu holen und ließ dem Manne sagen, die Bauern sollten den Pflug selber ziehen, er wollte die Ochsen haben. Während der Knecht die Ochsen auszuspannen begann, kam der Sohn des Bauern herzu und schlug ihm mit dem Treiberstecken einen Finger entzwei. Der Vogt wollte ihn deswegen strafen, und als er ihm entrann, ließ er den Vater nach Sarnen bringen, ihn blenden und ihm nehmen, was er hatte.

Quelle: Wilhelm Vischer, Die Sage von der Befreiung der Waldstätte nach ihrer allmählichen Ausbildung, Leipzig 1867, S. 33 ff. (Das weiße Buch von Sarnen, 1470).
aus: Leander Petzoldt, Historische Sagen, Mit Anmerkungen und Erläuterungen, Band II, Baltmannsweiler 2001, Nr. 604, S. 125 f..