Der getreue Winkelried.
Als der Herzog Leopold mit großem Heere vor die Stadt Sempach zog, drohte er die Besatzung zu henken und zu ertränken, verwüstete alle Felder vor der Stadt und ließ das Korn unter Spott- und Hohnreden abmähen; so rief man unter anderem denen in der Stadt zu, man sollte doch den Mähern das Morgenbrot bringen.
Unterdessen kamen die Eidgenossen mit vier Hauptbannern heran. Sobald
die Österreicher die Feinde erblickten, eilten sie mit großem
Geschrei den Berg herab, warfen mit Steinen und stießen mit den
Eidgenossen hart zusammen, so daß wohl sechzig der letzteren getötet
wurden und das Banner von Luzern unterging, ehe die Österreicher
irgendwelchen Schaden erlitten. Da half der allmächtige Gott den
getreuen Eidgenossen, daß sie siegten. Das hatte man einem getreuen
Manne unter ihnen zu verdanken. Als dieser sah, daß es den Schweizern
so übel erging und die Ritter mit ihren Lanzen und Spießen
überall die Soldaten niederstießen, bevor die Schweizer sie
mit ihren Hellebarden erreichen konnten, da drang der ehrbare, fromme
Mann vor, erfaßte soviel Spieße, als er ergreifen konnte und
drückte sie nieder. Freudig rief er aus: "Fliehet alle dahinten!"
Da wurden viele Grafen, Ritter und Knechte erschlagen, und die Schweizer
behaupteten das Feld.
Quelle: Emil Theuner,
Die Schlacht bei Sempach und die Sage vom Winkelried, in: Preuß.
Jb., ed. Treitschke und Delbrück, 58, 1886, S. 283 - 303, hier: S.
292.
aus: Leander Petzoldt, Historische Sagen, Mit Anmerkungen und Erläuterungen,
Band II, Baltmannsweiler 2001, Nr. 611, S. 131 f.