Eurystheus vor Alkmene
Das Heer der Sieger war in Athen eingezogen, und Iolaos, der jetzt wieder
in seiner vorigen Greisengestalt erschien, stand mit dem gedemütigten
Verfolger des herkulischen Geschlechtes vor der Mutter des Herakles, Hände
und Füße mit Fesseln gebunden. "Kommst du endlich, Verhaßter!"
rief ihm die Greisin zu, als sie ihn vor ihren Augen stehen sah. "Hat
dich nach so langer Zeit die Strafgerechtigkeit der Götter ergriffen?
Senke dein Angesicht nicht so zur Erde, sondern blicke deinen Gegnern
Äug' ins Auge. Du bist also der, der du meinen Sohn so viele Jahre
hindurch mit Arbeit und Schmach überhäuft hast, ihn ausgesandt
hast, giftige Schlangen und grimmige Löwen zu erwürgen, damit
er im verderblichen Kampfe erliege, ihn hinuntergejagt hast in das finstere
Reich des Hades, damit er dort der Unterwelt verfiele? Und nun treibest
du mich, seine Mutter, und diese Schar seiner Kinder, so viel an dir ist,
aus ganz Griechenland fort, und wolltest sie von den beschirmenden Altären
der Götter hinwegreißen? Aber du bist auf Männer und eine
freie Stadt gestoßen, die dich nicht gefürchtet haben. Jetzt
ist's an dir, zu sterben, und du darfst dich glücklich preisen, wenn
du nur sterben mußt. Denn da du mannigfachen Frevel verübt
hast, so hättest du auch verdient, durch mancherlei Qual einen vielfachen
Tod zu leiden!" Eurystheus wollte dem Weibe gegenüber keine
Furcht zeigen, er raffte sich zusammen und sprach mit erzwungener Kaltblütigkeit:
"Du sollst kein Wort aus meinem Munde hören, das einem Flehen
gliche; ich weigere mich nicht zu sterben. Nur soviel sei mir vergönnt
zu meiner Rechtfertigung zu sagen, daß nicht ich es gewesen bin,
der freiwillig dem Herakles als Widersacher entgegengetreten. Hera, die
Göttin, war es, die mir auftrug, diesen Kampf zu bestehen. Alles,
was ich getan habe, ist in ihrem Auftrage geschehen. Da ich mir nun aber
einmal wider Willen den mächtigen Mann und Halbgott zum Feinde gemacht,
wie hätte ich nicht darauf bedacht sein sollen, alles aufzubieten,
was mich vor seinem Zorne sicherstellen konnte? Wie hätte ich nicht
nach seinem Tode sein Geschlecht verfolgen sollen, aus welchem lauter
Feinde und Rächer ihres Vaters mir entgegenwuchsen? Tue nun mit mir,
was du willst; ich verlange nicht nach dem Tode, aber es schmerzt mich
auch nicht, wenn ich das Leben verlassen soll." So sprach Eurystheus
und schien mit Ruhe sein Schicksal zu erwarten. Hyllos selbst sprach für
seinen Gefangenen, und die Bürger Athens riefen auch die milde Sitte
ihrer Stadt an, die den überwundenen Verbrecher zu begnadigen pflegte.
Aber Alkmene blieb unerbittlich; sie gedachte aller Leiden, die ihr unsterblicher
Sohn auf Erden zu dulden hatte, solange er ein Knecht des grausamen Königs
war; ihr schwebte der Tod der geliebten Enkelin vor Augen, die sie hierher
begleitet hatte und freiwillig in den Tod gegangen war, um dem mit übergewaltiger
Heeresmacht drohenden Eurystheus den Sieg zu entreißen; sie malte
sich mit grausen Farben aus, welch Schicksal ihr selbst und allen ihren
Enkeln zuteil geworden wäre, wenn Eurystheus als Sieger und nicht
als Gefangener jetzt vor ihr stände. "Nein, er soll sterben",
rief sie, "kein Sterblicher soll diesen Verbrecher mir entreißen!"
Da kehrte sich Eurystheus zu den Athenern und sprach: "Euch, ihr
Männer, die ihr gütig für mich gebeten habt, soll auch
mein Tod keinen Unsegen bringen. Wenn ihr mich eines ehrlichen Begräbnisses
würdigt und mich bestattet, wo das Verhängnis mich ereilt hat
am Tempel der Athene, so werde ich als ein heilbringender Gast die Grenze
eures Landes bewachen, daß kein Heer sie jemals überschreiten
soll. Denn wisset, daß die Nachkommen dieser Jünglinge und
Kinder, die ihr hier beschützt, euch einst mit Heeresmacht überfallen
und euch die Wohltat schlecht lohnen werden, die ihr ihren Vätern
erzeigt habt. Alsdann werde ich, der geschworene Feind des Geschlechtes
des Herakles, euer Retter sein." Mit diesen Worten ging er unerschrocken
zum Tode und starb besser, als er gelebt hatte.