Iason im Palaste des Aietes
Der frühe Morgen vereinigte die Helden zur Ratsversammlung, Iason erhob sich und sprach: "Wenn euch meine Meinung gefällt, ihr Helden und Genossen, so sollt ihr übrigen alle ruhig, doch die Waffen in der Hand, im Schiff bleiben; nur ich, die Söhne des Phrixos und zwei aus eurer Mitte wollen uns nach dem Palast des Königs Aietes aufmachen. Hier will ich es versuchen und ihn zuerst mit höflichen Worten fragen, ob er das goldene Vlies in Güte uns überlassen wolle. Nun zweifle ich nicht, daß er die Bittenden, auf seine Stärke trotzend, abweisen wird. Wir aber werden auf diese Weise aus seinem eigenen Munde die Gewißheit erhalten, was wir tun müssen. Und wer kann es verbürgen, daß unsere Worte nicht doch vielleicht ihn günstig stimmen werden? Hat doch auch früher die Rede über ihn vermocht, daß er den unschuldigen Phrixos, der vor seiner Stiefmutter floh, in den Schutz seiner Gastfreundschaft aufnahm." Die jungen Helden billigten alle die Rede Iasons. So griff er selbst zum Friedensstabe des Hermes und verließ mit des Phrixos Söhnen und mit seinen Genossen Telamon und Augeias das Schiff. Sie betraten ein mit Weiden bewachsenes Feld, das kirkaeische genannt; hier sahen sie mit Schaudern eine Menge Leichen an Ketten aufgehängt. Doch waren es keine Verbrecher oder gemordete Fremdlinge; vielmehr galt es in Kolchis für einen Frevel, die Männer zu verbrennen oder in die Erde zu begraben, sondern sie hängten sie, in rohe Stierfelle gewickelt, an den Bäumen auf, fern von der Stadt, und überließen sie der Luft zum Austrocknen. Nur die Weiber wurden, damit die Erde nicht zu kurz käme, in diese begraben.
Die Kolchier waren ein gar zahlreiches Volk; damit nun Iason und seine
Begleiter von ihnen und dem Mißtrauen des Königs Aietes keine
Gefahr liefen, hängte Hera, die Beschirmerin der Argonauten, solange
sie unterwegs waren, eine dichte Nebelwolke über die Stadt und zerstreute
sie erst wieder, als sie glücklich in dem Palast des Königs
angekommen. Da standen sie denn in dem Vorhofe und bewunderten die dicken
Mauern des Königshauses, die hochgeschweiften Tore, die mächtigen
Säulen, die hier und dort an den Mauern vorsprangen. Das ganze Gebäude
umgürtete ein hervorstehendes steinernes Gesims, das mit ehernen
Dreischlitzen abgekantet war. Schweigend traten sie über die Schwelle
des Vorhofes. Diese umgrünten hohe Rebenlauben, darunter perlten
vier immerfließende Springquellen; der eine sandte Milch empor,
der zweite Wein, der dritte duftendes Öl, der vierte Wasser, das
im Winter warm, im Sommer eiskalt war. Der kunstreiche Hephaistos hatte
diese köstlichen Werke geschaffen. Derselbe hatte dem Besitzer auch
Stierbilder aus Erz gefertigt, aus deren Munde ein furchtbarer Feueratem
ging, und einen Pflug aus lauterm Eisen geschaffen, alles dem Vater des
Aietes, dem Sonnengott, zu Dank, der den Hephaistos in der Gigantenschlacht
einst auf seinen Wagen genommen und gerettet hatte. Aus diesem Vorhofe
kam man zu dem Säulengange des Mittelhofes, der sich zur Rechten
und zur Linken hinzog und hinter welchem. viele Eingänge und Gemächer
zu schauen waren. Querüber standen die zwei Hauptpaläste, in
deren einem der König Aietes selbst, im anderen sein Sohn Apsyrtos
wohnte. Die übrigen Gemächer hielten die Dienerinnen und die
Töchter des Königs, Chalkiope und Medea, besetzt. Medea, die
jüngere Tochter, war sonst wenig zu schauen; fast alle Zeit brachte
sie im Tempel der Hekate zu, deren Priesterin sie war. Diesmal aber hatte
Hera, die Schutzgöttin der Griechen, ihr in das Herz gegeben, im
Palast zu bleiben. Sie hatte eben ihr Gemach verlassen und wollte das
Zimmer ihrer Schwester aufsuchen, als sie den unerwartet daherschreitenden
Helden begegnete. Beim Anblick der Herrlichen tat sie einen lauten Schrei.
Auf ihren Ruf stürzte Chalkiope mit allen ihren Dienerinnen aus ihrem
Gemache hervor. Auch diese Schwester brach in einen lauten Jubelruf aus
und streckte danksagend ihre Hände gen Himmel, denn sie erkannte
in vieren der jungen Helden ihre eigenen Kinder, die Söhne des Phrixos.
Diese sanken in die Arme der Mutter, und lange nahm das Grüßen
und Weinen kein Ende.