Oidipus und Antigone
In der ersten Stunde der Entdeckung wäre der schnellste Tod dem
Oidipus der liebste gewesen, ja er hätte es als eine Wohltat aufgenommen,
wenn das Volk sich gegen ihn erhoben und ihn gesteinigt hätte. Und
so erschien ihm auch die Verbannung, um welche er flehte, und welche sein
Schwager Kreon ihm bewilligte, als ein Geschenk. Als er aber in seiner
Finsternis zu Hause saß und der Zorn allmählich auskochte,
da fing er auch an, das Gräßliche zu empfinden, was das Herumirren
eines blinden Verbannten in der Fremde für ihn haben mußte.
Die Liebe zur Heimat begann mit dem Gefühl wieder zu erwachen, daß
er für nicht beabsichtigte und nicht mit Bewußtsein begangene
Verbrechen, teils durch den Tod Iokastes, teils durch die Blendung, die
er an sich selbst vollzogen habe, doch eigentlich genug bestraft sei,
und er scheute sich auch nicht, den Wunsch zu Hause zu bleiben, gegen
Kreon und seine eigenen Söhne Eteokles und Polyneikes laut werden
zu lassen. Aber da zeigte sich, daß die Rührung des Fürsten
Kreon nur eine vorübergehende gewesen und auch seine Söhne eine
harte und selbstsüchtige Gemütsart hatten. Kreon nötigte
seinen unglücklichen Verwandten, auf seinem ersten Beschlüsse
zu verharren und die Söhne, deren erste Pflicht doch war, dem Vater
zu helfen, verweigerten ihm ihren Beistand. Ja fast ohne daß ein
Wort gewechselt wurde, gab man ihm den Bettelstab in die Hand und stieß
ihn zum Königspalast von Theben hinaus. Nur seine Töchter fühlten
kindliches Erbarmen mit dem Verstoßenen. Die jüngere Tochter
Ismene blieb im Hause ihrer Brüder zurück, um hier so viel als
möglich der Sache des Vaters zu dienen und gleichsam der Anwalt des
Entfernten zu sein. Die ältere, Antigone, teilte mit dem Vater die
Verbannung und lenkte die Schritte des Blinden. So zog sie mit ihm auf
schwerer Irrfahrt herum, schweifte unbeschuht und ohne Speise mit ihm
durch die wilden Wälder; Sonnenhitze und Regenguß hielt die
zarte Jungfrau mit dem Vater aus, und während sie zu Hause bei den
Brüdern die beste Pflege genießen konnte, war sie im Elend
zufrieden, wenn nur der Vater satt wurde. Sein Wille war anfangs gewesen,
in einer Wüstenei des Berges Kithairon das elende Leben zu fristen
oder zu endigen. Doch, weil er ein frommer Mann war, wollte er auch diesen
Schritt nicht ohne den Willen der Götter tun, und so pilgerte er
vorher zum Orakel des pythischen Apollon. Hier ward ihm ein tröstlicher
Spruch zuteil. Die Götter erkannten, daß Oidipus wider seinen
Willen sich gegen die Natur und die heiligsten Gesetze der Menschengesellschaft
versündigt hatte. Gebüßt mußte ein so schweres Vergehen
freilich werden, wenn es auch unfreiwillig war; aber ewig sollte die Strafe
nicht währen.
Darum eröffnete ihm der Gott: "Nach langer Frist zwar, aber
endlich doch harre seiner die Erlösung, wenn er zu dem ihm vom Schicksal
bestimmten Lande gelangt wäre, wo die ehrwürdigen Göttinnen,
die strengen Eumeniden, ihm eine Zufluchtsstätte gönnten."
Nun war aber der Name Eumeniden, die Wohlwollenden, ein Beiname der Erinnyen
oder Furien, der Göttinnen der Rache, welche die Sterblichen mit
einem so begütigenden Namen ehren und besänftigen wollten. Der
Orakelspruch lautete rätselhaft und schauerlich. Bei den Erinnyen
sollte Oidipus für seine Sünden gegen die Natur Ruhe und Erlösung
von seiner Strafe finden! Dennoch vertraute er auf die Verheißung
des Gottes und zog nun, dem Schicksal überlassend, wann die Erfüllung
eintreten sollte, in Griechenland herum, von seiner frommen Tochter geleitet
und gepflegt und von Almosen mitleidiger Menschen erhalten. Immer bat
er nur um weniges und erhielt auch nur weniges. Aber er begnügte
sich damit immer, denn die lange Dauer seiner Verbannung, die Not und
seine eigene edle Sinnesart lehrten ihn Begnügsamkeit.