Oidipus und Kreon
Bald darauf drang der König Kreon von Theben mit Bewaffneten in
Kolonos ein und eilte auf Oidipus zu. "Ihr seid von meinem Eintritt
ins attische Gebiet überrascht", sprach er zu den noch immer
versammelten Dorfbewohnern gewendet, "doch sorget und zürnet
nicht, ich bin nicht so jung, im Übermut gegen die stärkste
Stadt Griechenlands einen Kampf zu unternehmen. Ich bin ein Greis, den
seine Mitbürger nur abgesandt haben, diesen Mann hier durch gütliche
Überredung zu bewegen, mit mir nach Theben zurückzukehren."
Dann kehrte er sich zu Oidipus und drückte in den ausgesuchtesten
Worten eine erheuchelte Teilnahme an seinem und seiner Töchter Elend
aus. Aber Oidipus erhob seinen Stab und streckte ihn aus, zum Zeichen,
daß Kreon ihm nicht näher kommen solle. "Schamlosester
Betrüger", rief er, "das fehlte noch zu meiner Pein, daß
du kämest und mich gefangen mit dir fortführtest! Hoffe nicht,
durch mich deine Stadt von der Züchtigung zu befreien, die ihr bevorsteht.
Nicht ich werde zu euch kommen, sondern nur den Dämon der Rache werde
ich euch senden, und meine beiden lieblosen Söhne sollen nur soviel
von thebanischem Boden besitzen, als sie brauchen, um sterbend darauf
zu liegen!" Kreon wollte nun versuchen, den blinden König mit
Gewalt hinwegzuführen, aber die Bürger von Kolonos erhoben sich
dagegen, stützten sich auf Theseus' Wort und duldeten es nicht. Inzwischen
hatten in dem Getümmel auf einen Wink ihres Herrn die Thebaner Ismene
und Antigone ergriffen und von der Seite ihres Vaters weggerissen. Diese
schleppten sie fort und trieben den Widerstand der Koloneer ab. Kreon
aber sprach höhnend: "Deine Stäbe wenigstens habe ich dir
entrissen. Versuch es jetzt, Blinder, und wandere weiter!" Und durch
diesen Erfolg kühner gemacht, ging er aufs neue auf Oidipus los und
legte schon Hand an ihn, als Theseus, den die Nachricht vom bewaffneten
Einfall in Kolonos zurückgerufen hatte, auftrat. Sobald dieser hörte
und sah, was geschehen und noch im Werke sei, entsandte er Diener zu Fuß
und zu Roß auf der Straße hin, auf der die Töchter von
den Thebanern als Raub fortgeführt wurden, dem Kreon aber erklärte
er, ihn nicht eher freilassen zu wollen, als bis er dem Oidipus die Töchter
zurückgegeben. "Sohn des Aigeus", hob dieser beschämt
an, "ich bin wahrlich nicht gekommen, dich und deine Stadt zu bekriegen.
Wußte ich doch nicht, daß deine Mitbürger ein solcher
Eifer für diesen meinen blinden Verwandten, dem ich Gutes tun wollte,
befallen habe, daß sie den Vatermörder, den Gatten seiner Mutter,
lieber bei sich hegen würden, als ihn in sein Vaterland entlassen!"
Theseus befahl ihm zu schweigen, ohne Verzug mit ihm zu gehen und den
Aufenthalt der Jungfrauen anzuzeigen, und in kurzem führte er die
geretteten Töchter dem tiefgerührten Oidipus in die Arme. Kreon
und die Diener waren abgezogen.