Oidipus und Theseus
Die Koloneer hatte große Ehrfurcht vor dem blinden Oidipus erfüllt,
der in seiner Verbannung noch so gewaltig erschien. Sie rieten ihm, durch
ein Trankopfer die Entweihung des Erinnyenhaines zu sühnen. Erst
jetzt erfuhren auch die Greise den Namen und die unverschuldete Schuld
des Königs Oidipus, und wer weiß, ob das Grauen vor seiner
Tat sie nicht aufs neue gegen ihn verhärtet hätte, wenn nicht
ihr König Theseus, den die Botschaft herbeigerufen hatte, jetzt eben
in ihren Kreis getreten wäre. Dieser ging freundlich und ehrerbietig
auf den blinden Fremdling zu und redete ihn mit liebreichen Worten an:
"Armer Oidipus, mir ist dein Geschick nicht unbekannt, und schon
deine gewaltsam geblendeten Augen sagen mir, wen ich vor mir habe. Dein
Unglück rührt mich tief in der Seele. Sage mir, was du bei der
Stadt und mir suchest. Die Tat, zu der du meine Beihilfe verlangst, müßte
eine schreckliche sein, wenn ich mich von dir abwenden könnte. Ich
hab' es nicht vergessen, daß auch ich gleich dir in fremden Landen
herangewachsen bin und viele Fährlichkeiten ausgestanden habe."
- "Ich erkenne deinen Seelenadel in dieser kurzen Rede", antwortete
Oidipus, "ich komme dir eine Bitte vorzutragen, die eigentlich eine
Gabe ist. Ich schenke dir diesen meinen leidensmüden Leib, freilich
ein sehr unscheinbares Gut, aber doch ein großes Gut. Du sollst
mich begraben und reichen Segen von deiner Müdigkeit ernten!"
- "Fürwahr", sagte Theseus erstaunt, "die Gunst, um
welche du flehest, ist klein. Verlange etwas Besseres, etwas Höheres,
und es soll dir alles von mir gewährt sein." - "Die Gunst
ist nicht so leicht, wie du glaubst, o König", fuhr Oidipus
fort, "du wirst einen Streit um diesen meinen elenden Leib zu bestehen
haben." Nun erzählte er ihm seine Verjagung und das späte
und eigennützige Verlangen seiner Verwandten, ihn wieder zu besitzen;
dann bat er ihn flehentlich um seinen Heldenbeistand. Theseus hörte
aufmerksam zu und sprach endlich feierlich: "Schon weil jedem Gastfreunde
mein Haus offen steht, darf ich meine Hand nicht von dir abziehen; wie
sollte ich es tun, da du noch dazu mir und meinem Lande so viel Heil versprichst,
und von der Hand der Götter an meinen Herd geleitet worden bist!"
Er ließ dem Oidipus hierauf die Wahl, mit ihm nach Athen zu gehen
oder hier in Kolonos als Gast zu bleiben. Dieser wählte das zweite,
weil ihm vom Schicksal bestimmt sei, an der Stelle, wo er jetzt eben sich
befinde, den Sieg über seine Feinde davonzutragen und sein Leben
rühmlich zu beschließen. Der Athenerkönig versprach ihm
den kräftigsten Schutz und kehrte in die Stadt zurück.