Theseus bei Minos
Die erste Tat, die Theseus verrichtete, seitdem er als Königssohn und Erbe des attischen Thrones an seines Vaters Seite lebte, war die Aufreibung der fünfzig Söhne seines Oheims Pallas, welche früher gehofft hatten, den Thron zu erlangen, wenn Aigeus ohne Kinder stürbe, und welche ergrimmt waren, daß jetzt nicht bloß ein angenommener Sohn des Pandion, wie Aigeus war, König der Athener sei, sondern daß auch in Zukunft ein hergelaufener Fremdling die Herrschaft über sie und das Land führen sollte. Sie griffen daher zu den Waffen und legten dem Ankömmling einen Hinterhalt. Aber der Herold, den sie mit sich führten und der ein fremder Mann war, verriet diesen Plan dem Theseus, der nun plötzlich ihren Hinterhalt überfiel und alle fünfzig niedermachte. Um durch diese blutige Notwehr die Gemüter des Volkes nicht von sich abzukehren, zog hierauf Theseus auf ein gemeinnütziges Wagestück aus, bezwang den marathonischen Stier, der den Bewohnern vier attischer Gemeinden nicht wenig Not verursacht hatte, führte ihn zur Schau durch die Stadt und opferte ihn endlich dem Apollon.
Um diese Zeit kamen von der Insel Kreta zum drittenmal Abgeordnete des Königs Minos, um den gebräuchlichen Tribut abzuholen. Mit demselben verhielt es sich also: Der Sohn des Minos, Androgeos, war, wie die Sage ging, im attischen Gebiet durch Hinterlist getötet worden. Dafür hatte sein Vater die Einwohner mit einem verderblichen Kriege heimgesucht, und die Götter selbst hatten das Land durch Dürre und Seuchen verwüstet. Da tat das Orakel Apolls den Spruch, der Zorn der Götter und die Leiden der Athener würden aufhören, wenn sie den Minos besänftigen und seine Verzeihung erlangen könnten. Hierauf hatten sich die Athener mit Bitten an ihn gewendet und Frieden erhalten unter der Bedingung, daß sie alle neun Jahre sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen als Tribut nach Kreta schicken sollten. Diese sollen nun von Minos in sein berühmtes Labyrinth eingeschlossen worden sein und dort solle sie der gräßliche Minotauros, ein zwitterhaftes Geschöpf, das halb Mensch und halb Stier war, getötet haben, oder sie sollen auf andere Weise verschmachtet sein. Als nun die Zeit des dritten Tributes herbeigekommen war, und die Väter, welche unverheiratete Söhne und Töchter hatten, diese dem entsetzlichen Lose unterwerfen mußten, da erneuerte sich der Unwille der Bürger gegen Aigeus, und sie fingen an darüber zu murren, daß er, der Urheber des ganzen Unheils, allein seinen Teil an der Strafe nicht zu leiden habe, und nachdem er einen hergelaufenen Bastard zum Nachfolger ernannt, gleichgültig zusehe, wie ihnen ihre rechtmäßigen Kinder entrissen würden. Den Theseus, der sich schon gewöhnt hatte, das Geschick seiner Mitbürger nicht als ein fremdes zu betrachten, schmerzten diese Klagen. Er stand in der Volksversammlung auf und erklärte sich bereit, an dem Tribut teilzunehmen und sich selbst ohne Los hinzugeben. Alles Volk bewunderte seinen Edelmut und aufopfernden Bürgersinn, auch blieb sein Entschluß, obgleich sein Vater ihn mit den dringendsten Bitten bestürmte, daß er ihn des unerwarteten Glückes, einen Sohn und Erben zu besitzen, doch nicht sobald wieder berauben solle, unerschütterlich fest. Seinen Vater aber beruhigte er durch die bestimmte Versicherung, daß er mit den herausgelosten Jünglingen und Jungfrauen nicht in das Verderben gehe, sondern den Minotauros bezwingen werde. Bisher nun war das Schiff, das die unglücklichen Opfer nach Kreta hinüberführte, zum Zeichen ihrer Rettungslosigkeit mit schwarzem Segel abgesendet worden. Jetzt aber, als Aigeus seinen Sohn mit so kühnem Stolze sprechen hörte, rüstete er zwar das Schiff noch auf dieselbe Weise aus, doch gab er dem Steuermann ein anderes Segel von weißer Farbe mit und befahl ihm, wenn Theseus gerettet zurückkehre, dieses auszuspannen, wo nicht, mit dem schwarzen zurückzukehren, und so das Unglück zum voraus anzukündigen.
Als nun das Los gezogen war, führte der junge Theseus die Knaben und Mädchen, die es getroffen hatte, zuerst in den Tempel des Apollon, und brachte dem Gott in ihrem Namen den mit weißer Wolle umwundenen Ölzweig, das Weihegeschenk der Schutzflehenden, dar. Nachdem er das feierliche Gebet gesprochen, ging er von allem Volke begleitet mit den auserlesenen Jünglingen und Jungfrauen ans Meeresufer hinab und bestieg das Trauerschiff.
Das Orakel zu Delphi hatte ihm geraten, er solle die Göttin der
Liebe zur Führerin wählen und ihr Geleite sich erbitten. Theseus
verstand diesen Spruch nicht, brachte jedoch der Aphrodite ein Opfer dar.
Der Erfolg aber gab der Weissagung ihren guten Sinn. Denn als Theseus
auf Kreta gelandet und vor dem König Minos erschienen war, zog seine
Schönheit und Heldenjugend die Augen der reizenden Königstochter
Ariadne auf sich. Sie gestand ihm ihre Zuneigung in einer geheimen Unterredung
und händigte ihm ein Knäuel Faden ein, dessen Ende er am Eingang
des Labyrinths festknüpfen und den er während des Hinschreitens
durch die verwirrenden Irrgänge in der Hand ablaufen lassen sollte,
bis er an die Stelle gelangt wäre, wo der Minotauros seine gräßliche
Wache hielt. Zugleich übergab sie ihm ein gefeites Schwert, womit
er dieses Ungeheuer töten könnte. Theseus ward mit allen seinen
Gefährten von Minos in das Labyrinth geschickt, machte den Führer
seiner Genossen, erlegte mit seiner Zauberwaffe den Minotauros und wand
sich mit allen, die bei ihm waren, durch Hilfe des abgespulten Zwirns
aus den Höhlengängen des Labyrinths glücklich heraus. Jetzt
entfloh Theseus samt allen seinen Gefährten mit Hilfe und in Begleitung
Ariadnes, die der junge Held, beglückt durch den lieblichen Kampfpreis,
den er unerwartet errungen, mit sich führte. Auf ihren Rat hatte
er auch den Boden der kretischen Schiffe zerhauen und so ihrem Vater das
Nachsetzen unmöglich gemacht. Schon glaubte er seine holde Beute
ganz in Sicherheit und kehrte mit Ariadne sorglos auf der Insel Dia ein,
die später Naxos genannt wurde. Da erschien ihm der Gott Bakchos
im Traum, erklärte, daß Ariadne die ihm vom Schicksal bestimmte
Braut sei, und drohte ihm alles Unheil, wenn Theseus die Geliebte nicht
ihm überlassen würde. Theseus war von seinem Großvater
in Götterfurcht erzogen worden; er scheute den Zorn des Gottes, ließ
die wehklagende, verzagende Königstochter auf der einsamen Insel
zurück und schiffte weiter. In der Nacht erschien Ariadnes rechter
Bräutigam, Bakchos, und entführte sie auf den Berg Drios; dort
verschwand zuerst der Gott, bald darauf ward auch Ariadne unsichtbar.
Theseus und seine Gefährten waren über den Raub der Jungfrau
tiefbetrübt. In ihrer Traurigkeit vergaßen sie, daß ihr
Schiff noch die schwarzen Segel aufgezogen hatte, mit welchen es die attische
Küste verlassen; sie unterließen es, dem Befehl des Aigeus
zufolge, die weißen Tücher aufzuspannen, und das Schiff flog
in seiner schwarzen Trauertracht der Heimatküste entgegen. Aigeus
befand sich eben an der Küste, als das schwarze Schiff herangesegelt
kam, und genoß von einem Felsenvorsprunge die Aussicht auf die offene
See. Aus der Farbe der Segel schloß er, daß sein Sohn tot
sei. - Da erhob er sich von dem Felsen, auf dem er saß, und in unbegrenztem
Schmerze des Lebens überdrüssig, stürzte er sich in die
jähe Tiefe. Indessen war Theseus gelandet, und nachdem er im Hafen
die Opfer dargebracht hatte, die er bei der Abfahrt den Göttern gelobt,
schickte er einen Herold in die Stadt, die Rettung der sieben Jünglinge
und sieben Jungfrauen und seine eigene zu verkündigen. Der Bote wußte
nicht, was er von dem Empfange denken sollte, der ihm in der Stadt zuteil
ward. Während die einen ihn voll Freude bewillkommneten und als den
Überbringer froher Botschaft bekränzten, fand er andere in tiefer
Trauer versenkt, die seinen fröhlichen Worten gar kein Gehör
schenkten. Endlich löste sich ihm das Rätsel durch die erst
allmählich sich verbreitende Nachricht vom Tode des Königs Aigeus.
Der Herold nahm nun zwar die Kränze in Empfang, schmückte aber
damit nicht seine Stirn, sondern nur den Heroldsstab und kehrte so zum
Gestade zurück. Hier fand er den Theseus noch im Tempel mit der Darbringung
des Dankopfers beschäftigt, er blieb daher vor der Tür des Tempels
stehen, damit die heilige Handlung nicht durch die Trauernachricht gestört
würde. Sobald das Brandopfer ausgegossen war, meldete er des Aigeus
Ende. Theseus warf sich, vom Schmerz wie vom Blitze getroffen, zur Erde,
und als er sich wieder aufgerafft hatte, eilten alle, nicht unter Freudenjubel,
wie sie es sich gedacht hatten, sondern unter Wehgeschrei und Klageruf
in die Stadt.