Theseus in Athen
Zu Athen fand der junge Held nicht den Frieden und die Freude, die er
erwartet hatte. Bei der Bürgerschaft herrschte Verwirrung und Zwietracht,
und das Haus seines Vaters Aigeus selbst fand er in trauriger Lage. Medea,
die auf ihrem Drachenwagen Korinth und den verzweifelten Iason verlassen
hatte, war zu Athen angekommen, hatte sich in die Gunst des alten Aigeus
eingeschlichen und versprochen, durch ihre Zaubermittel ihm die Kraft
seiner Jugend zurückzugeben. Deswegen lebte der König mit ihr
in vertrautem Verhältnis. Durch ihren Zauber hatte das furchtbare
Weib vorher Kunde von der Ankunft des Theseus erhalten, und nun überredete
sie den Aigeus, den der Parteizwist seiner Bürger mit Argwohn erfüllte,
den Fremdling, in welchem der Greis den Sohn nicht ahnte und den sie ihm
als einen gefährlichen Späher darzustellen wußte, als
Gast zu bewirten und mit Gift aus dem Wege zu räumen. So erschien
denn Theseus unerkannt beim Frühmahl und freute sich, den Vater selbst
entdecken zu lassen, wen er vor sich habe. Schon war ihm der Giftbecher
vorgesetzt, und Medea harrte mit Ungeduld auf den Augenblick, wo der neue
Ankömmling, von dem sie aus dem Hause vertrieben zu werden fürchtete,
die ersten Züge daraus tun würde, die wirksam genug sein sollten,
ihm die jungen wachsamen Augen für immer zu schließen. Theseus
aber, den mehr nach der Umarmung seines Vaters als nach dem Becher verlangte,
zog, scheinbar um das vorgelegte Fleisch zu zerschneiden, das Schwert,
das sein Vater für ihn unter den Felsblock hinterlegt hatte, damit
Aigeus es gewahr werden und den Sohn in ihm erkennen sollte. Dieser sah
nicht sobald das ihm wohlbekannte Schwert blinken, als er den Giftbecher
umwarf und nachdem er sich durch einige Fragen vollends überzeugt
hatte, daß er den vom Schicksal ersehnten Sohn in junger Heldenblüte
vor sich habe, so schloß er ihn in seine Arme. Sofort stellte der
Vater ihn der Versammlung des Volkes vor, dem er die Abenteuer seiner
Reise erzählen mußte, und das den früh erprobten Helden
mit freudigem Jauchzen begrüßte. Gegen die falsche Medea hatte
der König Aigeus jetzt einen Abscheu gefaßt, und die mordlustige
Zauberin wurde aus dem Lande vertrieben.