Menelaos und Helena
Polyxena
Bis zum Morgen waren sämtliche Bewohner der Stadt niedergemacht oder gefangen. Die Danaer fanden nirgends mehr Widerstand, konnten sich der unermeßlichen Schätze der Stadt mit Behagen bemächtigen und brachten ihre Beute, aus Gold, Silber, Edelgesteinen, mannigfaltigem Hausrat, gefangenen Weibern, Mädchen und Kindern bestehend, an den Strand zu ihren Schiffen. Mitten unter dieser Schar führte Menelaos seine Gemahlin Helena nicht ohne Scham, und doch im Herzen zufrieden über ihren wiedererlangten Besitz, aus dem brennenden Troia hinweg. Ihm zur Seite ging Agamemnon, sein Bruder, mit der hohen Kassandra, die er den wilden Armen des Aias entrissen hatte; Hektors Gattin, Andromache, wurde vom Sohne des Achilles, Neoptolemos, fortgeführt; Hekabe, die Königin, die mühselig wandelte und unter lautem Jammer ihr graues, mit Asche bestreutes Haar ausraufte, schleppte Odysseus in die Gefangenschaft. Unzählige Frauen der Troianer folgten, junge und alte, hinter ihnen Mädchen und Kinder, und vermischt gingen die Mägde mit den Fürstentöchtern: den ganzen Weg entlang hallte Jammer und Schluchzen. Nur Helena stimmte nicht mit ein in die Klage, denn tiefes Schamgefühl hielt sie ab; sie heftete die dunkeln Augen auf den Boden, und ihre Wangen färbte ein fliegendes Rot. Im Innersten ihres Busens aber bebte ihr das Herz, und eine entsetzliche Furcht ergriff sie, wenn sie an das Schicksal dachte, das ihrer bei den Schiffen wartete; Todesblässe überzog ihre eben noch purpurroten Wangen, schnell zog sie den dichten Schleier über das Haupt und wandelte zitternd an der Hand des Gatten.
Aber als sie bei den Schiffen angelangt waren, staunten alle Danaer über die liebliche Schönheit der untadelhaften Gestalt, und sagten bei sich selbst, daß es wohl der Mühe wert gewesen sei, dem Völkerhirten Menelaos um eines solchen Kampfpreises willen vor Troia zu folgen und dort zehnjährige Mühseligkeiten und Gefahren auszuhalten. Und keinem kam in den Sinn, Hand an das schöne Weib zu legen; sie ließen ihrem Führer den friedlichen Besitz der Gattin, und das Herz des Fürsten Menelaos selbst hatte Aphrodite längst zur Verzeihung gestimmt.
Bei den Schiffen herrschte jauchzende Lust: alle Helden saßen beim fröhlichen Mahle umher, in der Mitte saß ein des Zitherspiels kundiger Sänger und rief dem Heere die Taten seines größten Helden, des Achilles, in das Gedächtnis zurück. So dauerte die Fröhlichkeit bis in die Nacht, dann brachen sie auf, ein jeglicher in sein Zelt.
Als nun Helena mit ihrem Gemahl Menelaos allein in seinem Feldherrnzelte war, warf sie sich ihm zu Füßen, umfaßte seine Knie und sprach: "Ich weiß wohl, daß du ein Recht hättest, deine treulose Gattin mit dem Tode zu bestrafen! Aber bedenke, edler Gemahl, daß ich deinen Palast zu Sparta nicht freiwillig verlassen habe; gewaltsam entführte mich der trügerische Paris, als du eben abwesend vom Hause wärest und mir deinen männlichen Schutz nicht angedeihen lassen konntest. Und als ich selbst Hand an mich zu legen gedachte und den Strick um meinen Hals zu winden oder mir das Schwert in den Busen zu stoßen, da hielten mich die Dienerinnen des Hauses zurück, und beschworen mich, deiner selbst und unseres blühenden kleinen Töchterleins eingedenk zu sein! Tue nun nach deinem Willen mit mir; ich liege als Reumütige und Schutzflehende zugleich zu deinen Füßen!"
Menelaos hob sie liebreich vom Boden auf und antwortete mit verständiger Mäßigung: "Denke nicht länger an das Vergangene, Helena, und ängstige dich nicht mit überflüssiger Furcht; was geschehen ist, sei in die Nacht der Vergangenheit versenkt, und keines früheren Fehlers hinfort von mir gedacht. " Damit schloß er sie in seine Arme und drückte ihren Lippen den Kuß der Versöhnung auf. Aus beider Wimpern rollte die Träne süßer und wehmütiger Rührung.
Neoptolemos, der Sohn des Achilles, lag um diese Stunde schon in tiefem Schlafe. Da trat zu ihm im Traume an sein Zeltlager der Geist seines hohen Vaters, ganz wie er einst im Leben war, der Schrecken der Troianer und die Freude der Griechen, küßte dem Sohne Brust, Mund und Augen, und sprach: "Gräme dich nicht im Gemüte, lieber Sohn, daß ich gestorben bin, denn ich lebe jetzt in der Gemeinschaft mit den seligen Göttern, sondern nimm dir fröhlich deinen Vater zum Beispiel im Kampfe wie im Rat: im Kampfe sei immer der erste, in der Ratsversammlung aber schäme dich nicht, den weisen Worten älterer Männer dich nachgiebig zu zeigen. Im übrigen strebe dem Ruhme nach, wie dein Vater getan, freue dich des Glückes und betrübe dich nicht zu sehr im Unglück; an meinem frühen Fall aber erkenne, wie nahe die Pforten des Todes dem Sterblichen sind, denn das ganze Menschengeschlecht gleicht den Frühlingsblumen; die einen wachsen, die anderen vergehen. Nun aber sage dem Völkerfürsten Agamemnon, sie sollen das Beste und Edelste von der ganzen Beute mir opfern, damit mein Herz sich auch am Untergange Troias laben könne und zu meiner Zufriedenheit im Olymp nichts fehle!"
Nachdem er seinem Sohne diesen Befehl erteilt hatte, verschwand der selige Geist aus dem Traume des Neoptolemos wie ein flüchtiger Hauch des Windes. Dieser erwachte und seinem freudig bewegten Gemüte war, als hätte er mit dem lebendigen Vater fröhlichen Umgang gepflogen. Am anderen Morgen sprangen die Danaer ungeduldig von ihrem Lager auf, denn die Sehnsucht nach der Heimkehr bemächtigte sich ihres Sinnes, und gern hätten sie augenblicks die Schiffe ins Meer gezogen, wenn der Sohn des Peliden nicht unter das versammelte Volk getreten wäre und ihren Eifer durch seine Anrede gehemmt hätte.
"Höre, Volk der Danaer", rief er mit seiner jugendlichen Kraftstimme, "was in dieser Nacht der Geist meines unsterblichen Vaters, der mich im Traume besucht hat, mir aufgetragen, euch zu verkündigen: Ihr solltet das Edelste und Beste der troianischen Beute ihm opfern, damit sich sein Herz am Untergange der verhaßten Stadt auch sättigen könne, und er des Siegespreises nicht verlustig gehe. Eher sollt ihr diesen Strand nicht verlassen, bis ihr die heilige Pflicht gegen den Toten erfüllt habt, dem ihr doch eigentlich die Eroberung Troias verdanket. Denn ohne daß Hektor besiegt worden, wäret ihr nimmermehr so weit gekommen!"
Ehrerbietig beschlossen die Danaer, den Willen ihres verstorbenen Helden zu befolgen, und Poseidon, aus Liebe zu dem Peliden, regte die Flut zu mächtigem Sturme auf, so daß das Meer in turmhohen Wellen aufbrauste und die Griechen, auch wenn sie es gewollt hätten, nicht imstande gewesen wären, den Strand zu verlassen. Als die Völker aber die empörte See erblickten und stürmen hörten, da flüsterten sie sich gegenseitig zu: "Ja, wahrhaftig stammte Achilles vom höchsten Zeus ab, denn sehet ihr, wie sich die Elemente mit seinen Befehlen verbünden!" Und so zeigten sie sich nur noch williger, dem Gebote des Hingeschiedenen zu gehorchen, und strömten zu Haufen dem Grabmale des Helden, das den Meeresstrand hoch überragte, zu.
Nun entstand aber die Frage: was soll geopfert werden, und was ist das Beste und Edelste der ganzen Beute Troias? Jeder Grieche brachte unweigerlich seine Beute an Schätzen und Gefangenen herbei. Als man aber alles musterte, da erbleichte Gold, Silber, Edelstein samt allen Schätzen vor der himmlischen Schönheit der Jungfrau Polyxena, der gefangenen Tochter des Königs Priamos, und nur ein Ruf ging durch das ganze Heer der Griechen, daß sie das Beste und Edelste von der ganzen troianischen Beute sei. Die Jungfrau, als aller Blicke sich auf sie richteten, erbleichte nicht, obgleich ihr der laute Jammerschrei ihrer Mutter Hekabe, der sich jetzt aus dem Haufen der Gefangenen erhob, durch das Tochterherz schnitt. Polyxena hatte den herrlichen Helden Achilles manches Mal von den Mauern herab im Kampfe erblickt, und obgleich er ein Feind ihres Volkes war, so hatte seine göttliche Gestalt und seine herrliche Heldenkraft ihr doch das Innerste bewegt. Ja, auch Achilles, so ging die Sage, habe, als er einst im Kampfe bis dicht vor die Tore der belagerten Stadt gedrungen, die holdselige Jungfrau auf den Zinnen der Mauer erblickt, und ihm sei das Herz in Neigung zu ihr entbrannt, daß er ausrief: "Priamos' Tochter, würdest du mir zuteil, wer weiß, ob ich deinem Vater nicht den Frieden mit den Danaern zuwege zu bringen mich anheischig machen wollte!" Zwar reute den Helden das Wort, so wie es der Zunge entflohen war, denn ihm fiel ein, was er Griechenland schuldig sei. Aber Polyxena, so erzählt das Gerücht, habe die Worte sich tief ins Herz gefaßt und seitdem in geheimer Liebe für den Feind ihres Volkes gebrannt.
Sei dem, wie ihm sei: die Jungfrau erblaßte nicht, als aller Blicke, auf sie gerichtet, nur sie als das Opfer bezeichneten, das als der edelste Teil der troianischen Beute dem größten Helden dargebracht zu werden allein würdig wäre. Der Altar vor dem Denkmal des Peliden stand aufgerichtet, und es fehlte nicht an Opfergeräten aller Art. Da sprang die Königstochter aus der Schar der gefangenen Frauen hervor, ergriff einen scharfgeschliffenen Stahl, der unter den anderen Gerätschaften bereit lag, und, wie ein Opfer vor dem Altar stehend, stieß sie sich den Dolch, ohne ein Wort zu sprechen, ins Herz und sank, ohne einen Seufzer auszustoßen, zu Boden.
Ein Schrei der Wehklage ließ sich aus dem ganzen Argiverheere vernehmen. Hekabe, die greise Königin, warf sich laut weinend auf die Leiche der Tochter, und von neuem hallte das laute Schluchzen unter der Schar der gefangenen Troianerinnen.
In dem Augenblick, wo Polyxena zusammensank und der purpurne Blutstrahl
ihr aus der durchbohrten Brust drang, wurde das Meer ruhig und seine Wellen
ebneten sich in spiegelglatte Fläche. Neoptolemos eilte voll Mitleid
herbei, half die geopferte Jungfrau vom Altar wegbringen und sorgte dafür,
daß sie mit königlichen Ehren bestattet wurde. In der Versammlung
der Argiver aber erhob sich Nestor und sprach herzerfreuende Worte: "Endlich",
rief der Greis, "ihr lieben Landsleute, ist die erlaubte Stunde der
Heimkehr genaht; der Beherrscher des Meeres hat die Wogen gebändigt,
nirgendher erhebt sich die Flut; Achilles ist zufriedengestellt, er nimmt
das Opfer Polyxenas an. Auf denn, lasset uns ernstlich an den Aufbruch
denken und zieht die Schiffe ins Meer!"