Aphrodite von Zeus mit Rom getröstet
Sie erscheint ihrem Sohne
Auf der Zinne des Olymp stand Zeus der Göttervater und heftete die Blicke, die über Meer und Land und Völker geflogen waren, endlich auf die afrikanische Küste, in das libysche Reich der Königin Dido, wo eben Aineias gelandet hatte. Zu dem Sinnenden trat seine Tochter Aphrodite, in ihren glänzenden Augen schwammen Tränen, und sie sprach traurig: "Was hat dir mein Aineias getan, allmächtiger Beherrscher der Menschen und der Götter, daß ihm, nachdem er schon so viel Unheil erduldet hat, der ganze Erdkreis um Italiens willen verschlossen wird? Hast du nicht selbst mir verheißen, daß dorther aus dem erneuerten Blute des troianischen Stammvaters im Laufe der Jahre dereinst das Römervolk kommen und die Herrschaft über Land und Meer erhalten sollte? Nur diese Verheißung söhnte mich mit dem Falle Troias aus; was hat deinen Sinn so auf einmal verwandelt?"
Der Vater lächelte die Göttin huldvoll an, herzte sie mit einem Kuß und sprach mit dem Blicke, mit welchem er die Wolken vom Himmel verscheucht: "Sei getrost, Töchterchen, das Los deiner Schützlinge bleibt unverrückt. Laviniums Mauern in Italien werden sich erheben, in mächtigem Kriege wird Aineias dort siegen, trotzige Völker bändigen, Gesetz und Ordnung gründen. Drei Jahre wird er in Latium herrschen, sein Sohn Askanios oder Iulos wird den Sitz der Herrschaft nach Alba longa verlegen. Drei Jahrhunderte wird dort das Geschlecht des Priamos auf dem Throne sitzen, bis eine Priesterin der Hestia (Vesta) aus dem Königshause dem Kriegsgott Zwillingsknaben gebiert. Von diesen wird Romulus, von einer Wölfin gesäugt, seinem Vater Ares neue Mauern bauen und der Stifter des Römervolkes werden. Die Römer aber mache ich zu Herren der Welt, und ihrer Herrschaft sei kein Ziel gesetzt. Hera selbst, welche deinen Sohn jetzo quält, wird sich mit diesen seinen Enkeln versöhnen und sie mit mir begünstigen, und der größte Römer wird ein Nachkomme des Iulos sein und Iulius heißen. Sein Ruhm wird zu den Sternen sich erheben, er selbst, dein Nachkomme, Tochter, wird in den Himmel unter die Götter aufgenommen werden. Unter den Menschen aber wird nach beendigten Kriegen der ewige Friede wohnen, eiserne Riegel werden die Pforten der Zwietracht schließen, die, mit hundert Ketten gefesselt, vergebens mit den blutigen Zähnen knirschen wird."
So sprach Zeus und sandte sofort seinen Sohn, den Götterboten Hermes, nach Karthago, um dort den Troianern gastliche Herberge zu bereiten. Dieses Land war ein uralter Sitz phönizischer Pflanzer, und Hera beschirmte das Reich mit besonderer Huld. Ihre Rüstung, ihre Wagen waren dort aufbewahrt, und längst war es Wunsch und Bestreben der Göttin, hier ein Weltreich zu begründen. Jetzt aber beherrschte dieses libysche Reich Dido, die Witwe des Phöniziers Sychaios, welche hier die neue Stadt und Burg Karthago erbaut hatte.
Am anderen Morgen machte sich Aineias, nur von seinem Freund Achates
begleitet, zwei Wurfspieße in der Hand, auf, um das neue Land zu
erforschen, an dessen Gestade ihn der Sturm geworfen hatte. Da begegnete
ihm mitten im Walde seine Mutter Aphrodite in Gestalt einer bewaffneten
Jägerin, wie Spartas Jungfrauen sich zu tragen pflegen: ein Bogen
hing ihr über den Schultern, das Haar flatterte frei in den Lüften,
das leichte Gewand war ihr bis ans Knie aufgeschürzt. "Sagt
mir doch, ihr Jünglinge", so redete sie die schreitenden Helden
an, "habt ihr keine meiner Gespielinnen gesehen, in Luchspelz gekleidet,
mit übergehängtem Köcher?" - "Nein", entgegnete
ihr Aineias, "aber wer bist du, Jungfrau? In deinem Antlitz und deiner
Stimme ist etwas Übermenschliches, bist du eine Nymphe, bist du eine
Göttin? Doch, wer du auch seiest: sag uns, in welchem Lande sind
wir? Der Sturm hat uns an dieses Gestade verschlagen, und wir irren schon
lange in der Welt umher." Hierauf erwiderte Aphrodite lächelnd:
"Wir lyrischen Mädchen pflegen uns immer so zu tragen, und ich
bin darum nicht Apollons Schwester, weil du mich mit dem Köcher bewaffnet
siehst. Du bist unter Tyriern, Fremdling, in einem Reiche der Phönizier,
in der Nähe von Agenors Stadt; dennoch ist der Weltteil, in welchem
du dich befindest, Afrika, das Land ist libysch und das Volk wild und
kriegerisch. Eine Königin herrscht über uns, Dido; auch sie
stammt aus Tyros und war dort die geliebte Gattin des reichen Phöniziers
Sychaios. Aber ihr Bruder Pygmalion, der König von Tyros, ein unmenschlicher
Tyrann, haßte den Schwager, und um die Liebe der Schwester unbekümmert,
erschlug er ihren Gatten, geblendet von Goldgier, heimlich am Altar der
Götter. Der blasse Schatten des Gemordeten erschien seiner Gemahlin
im Traume, mit einer tiefen Schwertwunde in der Brust, und entschleierte
ihr das geheime Verbrechen; er riet ihr zu schleuniger Flucht aus dem
Vaterlande und bezeichnete ihr die unterirdische Stelle, wo der alte verborgene
Reichtum des Königs, Silber und Gold, ihre Fahrt zu unterstützen,
bereit läge. Dido folgte seinem Winke; der Tyrannenhaß sammelte
viele Gefährten um sie. Was von Schiffen bereit lag, wurde mit dem
Golde des kargen Pygmalion angefüllt. So gelangten sie an die Küste
Afrikas und an den Ort, wo du jetzt die gewaltigen Mauern der neuen Stadt
Karthago und ihre himmelansteigende Burg erblicken wirst. Hier erkaufte
sie anfangs nur ein Stück Landes, welches Byrsa oder Stierhaut genannt
wurde nach ihrer Tat. Denn sie verlangte nur so viel Feldes, als sie mit
einer Stierhaut zu umspannen vermöchte. Diese Haut aber schnitt sie
in so dünne Riemen, daß sie den ganzen Raum einschloß,
den jetzt Byrsa, die Burg Karthagos, einnimmt. Von dort aus erwarb sie
mit ihren Schätzen immer größeres Gebiet, und ihr königlicher
Geist gründete das mächtige Reich, das sie jetzt beherrscht.
Nun wißt ihr, wo ihr seid, ihr Männer. Aber wer seid denn ihr,
woher kommt ihr und wohin wandert ihr?" Mit diesen Fragen veranlaßte
die Göttin eine rührende Erzählung seines Schicksals aus
dem Munde ihres Sohnes, dessen Klage sie jedoch bald unterbrach: "Wenn
meine Eltern mich nicht umsonst die Deutung des Vogelfluges gelehrt haben",
sagte sie, "so verkündige ich dir die Rettung deiner verschlagenen
Schiffe und die Rückkehr deiner Freunde. Denn ich sah am offenen
Himmel in freudigem Zuge zwölf Schwärme fliegend, die kurz zuvor
ein Adler, der Vogel Zeus', auseinandergescheucht hatte. In langem Zuge
suchten sie teils das Land zu gewinnen, teils schwebten sie schon über
dem gewonnenen; so erreichten auch deine Genossen schon zum Teil den Hafen,
zum Teil nähern sie sich ihm mit vollen Segeln. Du aber geh' immerhin
auf dem betretenen Pfade fort." So sprach die Jungfrau und wandte
sich um. Ihr rosiger Nacken erglänzte von überirdischem Licht,
ihre ambrosischen Locken verbreiteten einen himmlischen Wohlgeruch, ihr
Kleid wallte blendend zu den Fersen hernieder, ihre Gestalt erschien übermenschlich,
ihr ganzer Weggang verkündigte die Göttin. Jetzt erkannte Aineias
plötzlich seine Mutter und rief die Fliehende vergebens zurück.
Diese aber umhüllte die Wanderer mit einer dichten Umkleidung von
Nebel, daß niemand sie schauen und ihre Absichten erforschen könnte.
Sie selbst schwebte hoch durch die Lüfte nach ihrem Lieblingssitze
Paphos.