Sturm und Irrfahrten
Die Harpyien
Als kein Land mehr sichtbar und ringsherum nur Himmel und Gewässer war, sammelte sich über den Häuptern der Schiffenden ein graues Gewölk, das Nacht und Sturm herbeiführte, und die Woge fing in schwarzer Finsternis zu schauern an. Sofort brachten Orkane das Meer in Aufruhr, Berge von Fluten stiegen auf, die Flotte ward auseinandergeworfen, und die Schiffe trieben zerstreut über den strudelnden Abgrund hin. Die schwarzen Wetterwolken raubten das Tageslicht und hüllten alles in eine dichte Regennacht, welche nur Blitz auf Blitz aus den zerrissenen Wolken erhellte. Dieses fürchterliche Ungewitter dauerte drei Tage und drei sternlose Nächte, und während dieser Zeit wußte selbst der erfahrene Steuermann der Flotte, Palinuros, nicht mehr, wo sich in dem blinden Dunkel die Schiffenden befanden, und welcher Himmelsgegend die umhergeworfenen Fahrzeuge zugetrieben wurden. Endlich am vierten Tage legte sich der Sturm allmählich, ein fernes Gebirge zeigte sich am Horizont. Dieser Anblick gab den Verzweifelnden geschwundenen Mut wieder; als sie dem Lande näher gekommen waren, zogen sie die Segel ein, warfen sich über die Ruder und wühlten mit aller Anstrengung in dem noch immer empörten Meeresschaum.
Das Land, welches die Verirrten aufnahm, gehörte einer der beiden Strophadeninseln an, die sich im großen ionischen Meere befinden, der Pelopsinsel gegenüber. Es war ein unwirtliches, durch schauerliche Bewohner verrufenes Land. Die Harpyien, die gefräßigen Ungeheuer, seitdem sie die Wohnung des Königs Phineus verlassen hatten und von seinem unglücklichen Tische verscheucht worden waren, hatten an diesem Gestade den häßlichen Sitz aufgeschlagen. Diese grausenhaften Scheusale waren, wie bekannt, ein Vogelgezücht mit Jungfrauengesichtern, die aber, beständig vom Hunger gebleicht, entsetzlich anzuschauen waren. An den Händen hatten sie Krallen, mit welchen sie alle Speise ergriffen, deren sie sich bemächtigen konnten, und mit dem ekelhaften Abfluß ihres Leibes besudelten sie jeden Ort, an dem sie erschienen.
Von diesen Bewohnerinnen des ihnen gänzlich unbekannten Ufers hatten
Aineias und seine Fluchtgenossen keine Ahnung. Sie liefen in den Hafen
ein, der vor ihnen lag, und waren ganz fröhlich, als sie sich wieder
auf festem Lande befanden. Der erste Anblick des Gestades zeigte ihnen
auch nichts Unheimliches: Herden von Rindern und Ziegen gingen lustig
auf der Weide, ohne alle Hüter. Der ausgestandene Hunger hieß
die Gelandeten nicht lange zögern; sie fuhren mit dem Schwert unter
das Vieh, brachten Zeus und den Göttern ein Schlachtopfer dar und
setzten sich selbst zum leckeren Schmaus am Ufer in die Runde. Sie erfreuten
sich aber des Mahles noch nicht lange, als sie plötzlich von den
nahen Hügeln her einen lauten Flügelschlag wie von vielen Vögeln
vernahmen. Als wären sie vom Sturmwinde herbeigeführt, erschienen
plötzlich die Harpyien, fielen über die Speisen her, zerrten
daran herum und besudelten alles mit ihrer abscheulichen Berührung.
Allenthalben ertönte ihre gräßliche Stimme und verbreitete
sich ihr scheußlicher Pesthauch. Die Tafelnden flüchteten sich
mit ihrer Opfermahlzeit an eine abgelegene Stelle, unter einen hohlen
Felsen, der rings von schattigen Bäumen eingeschlossen war. Hier
zündeten sie Feuer auf neuen Rasenaltären an und stellten auch
ihr Mahl wieder auf. Aber aus den heimlichsten Winkeln und von ganz anderer
Himmelsgegend her kam wieder derselbe sausende Schwärm, machte sich
mit seinen Krallenfüßen an die Beute und befleckte das Mahl
auf alle Weise. Aineias und die Seinigen griffen endlich zu dem letzten
Mittel, sie verbargen ihre Schwerter und Schilde ringsumher im Gras, und
als die häßlichen Vögel sich wieder im Schwärme herniedersenkten
und die krummen Ufer umflatterten, brachen seine Genossen auf das Zeichen
eines ihrer Freunde, der vom Felsen herab seine Beobachtungen anstellte,
los und versuchten es, die Untiere mit ihren Schwertern zu erlegen. Aber
keine Gewalt vermochte das Gefieder zu durchdringen, keine Wunde saß
auf ihren Rücken fest; eilige Flucht entzog sie den Streichen, sie
ließen ihre Beute angefressen zurück und überall Spuren
voll Unflats. Nur eine von den Harpyien, Kelaino mit Namen, setzte sich
auf den höchsten Felsen und brach in die prophetischen Fluchworte
aus: "Ist es nicht genug, uns Rinder und Ziegen gemordet zu haben,
ihr troianischen Fremdlinge? Müßt ihr uns unschuldige Harpyien
auch noch aus dem Heimatlande vertreiben? Nun, so höret die Prophezeiung,
die mir Phoibos anvertraut hat und die ich euch als Rachegöttin verkündige:
Ihr fahrt nach Italien, ihr werdet es auch erreichen, sein Hafen wird
euch aufnehmen; aber nicht eher umgebet ihr die euch verheißene
Stadt mit Mauern, als bis euch ein gräßlicher Hunger, die Strafe
für das Unrecht, das ihr an uns beginget, zwingen wird, von euren
eigenen Tischen zu nagen und sie aufzuzehren." So sprach sie, schwang
die Fittiche und floh in die Waldung zurück. Den Troianern erstarrte
das Blut in den Adern vor Schrecken; sie wußten nicht, hatten sie
es mit fluchwürdigen Vögeln oder mit mächtigen Göttinnen
zu tun. Endlich hob der Vater Anchises seine Hände flehend gen Himmel
und betete zu den Göttern um Abwendung alles Unheils. Dann riet er
seinem Sohn und den Genossen der Flucht, sich in aller Eile wieder einzuschiffen.