Aineias geheilt - Neue Schlacht
Sturm auf die Stadt
Da erbarmte sich Aphrodite ihres gefährdeten Sohnes. Sie pflückte auf dem Idagebirge der Insel Kreta das herrliche Kraut Diktamnos mit seinen saftigen Blättern und purpurnen Blumen, brachte es, in eine dichte Wolke gehüllt, ins Lager herbei und träufelte von seinem Safte heimlich und allen ungesehen in den Kessel, in welchem die Heilkräuter des Arztes brodelten, dazu mischte sie noch Tropfen Ambrosias und das duftende Panaceenkraut. Iapyx ahnte hiervon nichts; aber als er noch einmal die Wunde mit seinem Kräutersafte wusch, siehe, da entfloh plötzlich der Schmerz aus dem Leibe des Helden, zuinnerst in der Wunde versiegte das Blut; der Pfeil folgte von selbst und zwanglos der berührenden Hand und fiel aus dem Leibe heraus. Sichtlich waren dem geheilten Aineias die Kräfte zurückgekehrt. "Was zögert ihr?" rief der Arzt ganz vergnügt; "schnell dem Helden die Waffen gebracht! Das ist nicht aus menschlicher Macht, nicht nach den Gesetzen der Heilkunst erfolgt, das hat ein Größerer getan denn ich, und zu größeren Taten treibt er dich an, o König!"
Aineias, nach Kampf lechzend, legte schnell Schienen und Panzer an, zürnte allem Verzug und war froh, als er endlich den Helm auf dem Haupt sitzen hatte und den Speer in den Händen schwang. In voller Waffenrüstung umarmte er seinen Sohn Askanios, küßte ihn streifend durch das Helmgitter und sprach: "Lerne von mir die Tapferkeit, mein Kind, und die wahre Beharrlichkeit, das Glück aber lerne von anderen!" Dann schritt die gewaltige Heldengestalt aus den Lagertoren; Antheus und Mnestheus mit dichter Reiterschar drängten sich ihm nach; alles Volk strömte aus dem Lager, und ein wolkiger Staub verkündigte dem Turnus die Nahenden. Ein Schauder lief ihm durch Mark und Bein. Auch seine Schwester Iuturna wandte sich mit ihm, bebend vor Furcht, zur Flucht; und bald tobte der Troianerheld in der Schlacht wie eine Windsbraut. Da fiel auch der Seher Tolumnius, der zuerst das Geschoß in die Reihen der Feinde geschleudert hatte.
Die Halbgöttin Iuturna aber stieß auf ihrer Flucht den Metiscus, den Wagenlenker ihres Bruders, vom Sitz, schwang sich in seiner Gestalt selbst zum Bruder empor, ergriff die Zügel und schwirrte nun mit ihm wie eine Schwalbe mitten durch den Feind, bald da, bald dort ihn zeigend, dann wieder abwegs ihn führend, so daß niemand ihn zum Kampf einholen konnte. Auf allen Wendungen verfolgte Aineias den Flüchtigen, blieb ihm unaufhörlich auf der Spur und rief ihn durch zersprengte Geschwader von Feinden aus der Ferne zum Kampf herbei. So oft er aber nahe kam, drehte Iuturna den Wagen auf die Seite und ermüdete durch seine Beugungen den vergebens nachfolgenden Helden. Nun rannte der Latiner Messapus, der eben zwei Speere in der Linken wiegte, herbei und schleuderte einen davon mit sicherem Schwung dem Troianer entgegen. Aineias stand still und duckte sich hinter den Schild, indem er sich ins Knie bückte. Der Speer fuhr über ihn hin, doch so, daß er ihm den Helmbusch vom Scheitel stieß. Da rief Aineias die Götter zu Zeugen des gebrochenen Bundes auf und stürzte sich zum schonungslosen Mord tief unter die Feinde.
Dann legte ihm seine Mutter Aphrodite den Anschlag ins Herz, ohne Verzug seine Streitmacht seitwärts zu wenden und die Latiner durch unerwartete Not in Verwirrung zu setzen. Während er den dahinrollenden Wagen des Turnus noch immer verfolgte, fiel sein Blick auf die Mauern, und er sah sich die Stadt an, die noch immer unberührt vom Kriege verschont und in Ruhe dalag. Plötzlich rief er seine Helden Mnestheus, Sergestos und Serestos herbei und besetzte die Höhen; das übrige Troianerheer zog den Helden nach und drängte sich, ohne Schild und Lanzen niederzulegen, in einem Kreis um seinen Führer.
Da stand nun Aineias in der Mitte und sprach von einer Erhöhung herab: "Zögert nicht, meine Befehle zu erfüllen. Zeus steht auf unserer Seite. Wenn die Feinde sich nicht heute unterwerfen, so stürze ich die Stadt des Latinus und mache ihre rauchenden Giebel dem Boden gleich! Soll ich etwa warten, bis es dem Turnus beliebt, den Kampf mit mir zu bestehen? Nein, hier, vor euch liegt das Ziel des Krieges; eilet mit Fackeln herbei, mahnet sie mit Flammen an ihr Bündnis." So sprach er, und sein ganzes Heer bildete auf der Stelle einen Keil und drängte sich in dichter Masse der Stadt zu; die Sturmleitern werden angelegt, Fackelbrände leuchten, an den Toren tobt der Sturm und fallen die Wachen; Pfeile und Lanzen fliegen über die Mauern. Vor allen im Heere hob Aineias seine Rechte hoch gen Himmel, wälzte alle Schuld auf den König Latinus und rief die Götter zu Zeugen des gebrochenen Bündnisses an.
Unter den geängstigten Bürgern entstand Zwietracht: die einen
verlangten, man sollte die Stadt den Troianern auftun, die Tore entangeln,
den König Latinus selbst zurückrufen und zum Abschluß
des Friedens zwingen; andere schleppten Waffen herbei und sannen auf die
Verteidigung der Mauern. Die Königin Amata, als sie vom Dache des
Palastes aus den Feind herannahen sah, die Mauern erstürmt, Brände
auf die Häuser geworfen, nirgends den Turnus oder sonst ein Rutulerheer
den Feinden entgegengestellt, klagte sich selbst laut als die Urheberin
alles dieses Unheils an, zerriß sich ihr Purpurgewand und erhängte
sich am Deckengebälk ihres Frauengemachs. Als die Frauen der Latiner
dieses Ende ihrer Herrin vernommen hatten, tönte ein lautes Jammern
aus den Gemächern. Lavinia, ihre Tochter, raufte sich die goldenen
Locken und zerschlug sich Brust und Wangen. Bald verbreitete sich der
Ruf der Trauer durch die ganze Stadt; Latinus, der jammervolle Gatte,
zerriß sein Gewand und jammerte durch den Palast, sich selbst anklagend,
daß er den Troianer nicht sogleich in die Stadt aufgenommen und
sich zum Eidam auserkoren habe.