Turnus im Lager der Troianer

Während dies in Tuskien vorging, schickte Hera, deren Groll gegen Aineias doch noch nicht gedämpft war, ihre Botin Iris zu dem Rutuler Turnus. Diese meldete dem Anführer der Feinde, daß Aineias sein Lager, seine Genossen, seine Flotte verlassen und sich nach dem Reiche Euanders gewendet habe, und befahl ihm, das troianische Lager zu stürmen. Turnus folgte auf der Stelle dem Ruf. Der Held Messapus voran, Tyrrhus und seine Söhne in der Hinterhut, mit dem Kerne des Heeres Turnus selbst, zogen sie durchs offene Feld nach dem Gestade des Tiber. Plötzlich sah Kaikos, der Wächter der vordersten troianischen Warte, ein dunkles Staubgewölk vom Felde wirbelnd aufsteigen. "Brüder", rief er rückwärts gewendet, "es verfinstert ein nahender Schwarm die Luft, Waffen herbei, schnell auf die Lagermauern, der Feind ist da!" Auf diese Nachricht stürzten die auf dem Felde zerstreuten Troianer durch alle Tore ins Lager zurück und sammelten sich, wie es Aineias für unvorhergesehene Fälle scheidend befohlen hatte, auf den Schanzen und Mauern, obgleich sie Scham und Zorn viel mehr zum offenen Gefechte getrieben hätte. Sie sperrten also die Tore und vollzogen in allem die Gebote ihres Führers, indem sie den Feind auf den Zinnen und in den hohlen Türmen erwarteten.

Turnus aber eilte dem Heere, das ihm zu langsam vorwärts ging, mit zwanzig auserlesenen Reitern voran und erschien, auf einem thrakischen gefleckten Schimmel, unvermutet vor den Mauern des Lagers. "Wer wagt sich zuerst an den Feind?" fragte er, rückwärts gewendet, seine kleine Schar und schleuderte seinen Wurfspieß durch die Lüfte hinan. Jubelnd taten seine Genossen dasselbe und höhnten die feigen Troianerseelen, die sich hinter ihren Mauern verschanzt hielten und es nicht wagten, ins Feld zum offenen Kampfe herabzusteigen. Indessen spähte Turnus hoch zu Roß, den goldenen Helm mit dem roten Federbusch auf dem Haupte, ringsum die Mauern des Lagers aus und suchte einen unbemerkten Zugang. So schnaubt ein Wolf bei Wind und Regen die halbe Nacht hindurch um den vollen Schafstall und ergrimmt über das Blöken der Schafe und Lämmer, die drinnen in Sicherheit sitzen. Endlich fiel ihm die Flotte ins Auge, die, ganz von Dämmen und Wellen umgeben, sich geborgen an die eine Seite des Lagers lehnte. Jauchzend ermahnte er seine Freunde, diese in Brand zu stecken, ergriff selbst zuerst die flammende Fackel, und sofort bewehrte sich die gesamte Jugend des allmählich nachgerückten Heeres mit Feuerbränden, die von den Herden der benachbarten Hütten geraubt worden waren. Und unfehlbar wäre nun die Flotte der Troianer verbrannt worden, wenn nicht ein göttliches Wunder das Feuer von den Schiffen abgewendet hätte. Schon damals nämlich, als Aineias am Fuße des Idagebirges die Flotte zimmerte, die ihn in das fremde Land tragen sollte, flehte Kybele, die Mutter aller Götter, zum allmächtigen Zeus: "Sohn, gib mir, was ich von dir verlange! Ich habe dem dardanischen Manne, der einer Flotte bedurfte, willig meinen schönen Hain von Ahornbäumen und Kiefern fällen lassen. Nun aber ängstigt mich die Sorge, meine geliebten Bäume, zu Schiffen umgewandelt, möchten ein Raub der Stürme werden. Darum erhöre meine Bitte, laß es dem Holz zugute kommen, daß es auf dem Ida gewachsen ist, und schütze die Schiffe vor aller Gefahr." - "Das kann ich nicht", erwiderte Zeus, "ich vermag dem von sterblichen Händen Erbauten nicht Unsterblichkeit auf Erden zu verleihen, doch was ich für sie tun kann, das will ich. So viel ihrer, ausgedient, das Ziel und den Hafen Ausoniens erreichen, die will ich von der sterblichen Form befreien, und wie die Töchter des Nereus sollen sie als Göttinnen des Meeres ein seliges Leben in den Fluten führen."

Dieses Wort ging jetzt in Erfüllung. Als Turnus den Brand in die Schiffe werfen wollte, verbreitete sich von Morgen her ein Strahlengewölk über den Himmel, und ein grauenvoller Schall aus den Lüften durchlief die Scharen der Troianer und der Rutuler. "Bemühet euch nicht so ängstlich", rief es, "ihr Troianer, meine Schiffe zu schirmen. Eher wird Turnus das Meer verbrennen als sie! Ihr aber, Schiffe, schwimmet erlöst dahin, seid Meeresgöttinnen; die Mutter der Götter will es so!" Bei diesem Worte wurden die Schiffe plötzlich lebendig, zerrissen jedes seine Seile, mit welchen sie angebunden waren, tauchten mit den Schnäbeln wie Delphine ins Meer unter und schwammen, wieder aufgetaucht, in Gestalt schöner Jungfrauen durch die Meeresflut. Entsetzen ergriff die Rutuler. Messapus, ihr vorderster Führer, schreckte mit scheuem Gespann auf seinem Wagen zusammen, ja der Tiberstrom selbst zog sich mit seinen Wellen schaudernd vom Meere zurück. Nur der tollkühne Turnus ließ die Hoffnung noch nicht fahren. "Merket ihr nicht, Freunde!" sprach er, "daß dieses Wunder allein gegen die Troianer gerichtet ist? Zeus selbst hat ihnen ihre Hilfe entrissen, alle Hoffnung zur Heimkehr ist ihnen mit der Verwandlung ihrer Schiffe abgeschnitten und die Rutuler brauchen keine Feuerbrände mehr! Das Land aber ist in unseren Händen. Tausende in ganz Italien waffnen sich für uns. Mich ängstigen keine Göttersprüche und Verheißungen, deren sie sich rühmen. Auch mir ist mein Schicksal bestimmt, und es lautet auf Vertilgung dieses verruchten Geschlechtes mit dem Schwerte!"

Auch mit der Tat blieb Turnus so unverdrossen wie mit dem Worte. Dem Messapus wurde das Geschäft übertragen, die Tore mit Kriegern zu umstellen und die Wälle rings mit Feuern zu umzingeln, und unter ihm versahen unter vierzehn auserlesenen Hauptleuten je hundert Jünglinge, schimmernd von Gold und mit rotbebuschten Helmen, den Dienst. Diese machten, einander ablösend, die Runde, und die Feiernden lagerten sich ins Gras und taten sich beim Weinkruge gütlich. Die Troianer von ihren Wällen herab schauten dieses und hielten die Zinnen aufs vorsichtigste mit Bewaffneten besetzt. Nicht ohne Besorgnis umwandelten sie die Tore, versahen die Bollwerke mit Brücken und brachten den nötigen Vorrat von Geschossen herbei. Das Ganze leitete Mnestheus und Serestos, welche Aineias vor seiner Abfahrt über das Lager gesetzt hatte. Und so wachte denn das ganze Heer innerhalb der Lagermauern.