DER FLIEGER IWANS DES SCHRECKLICHEN

Als Zar Iwan der Schreckliche in Rußland herrschte, hatte sich eines Morgens eine große Menge Volks vor dem Glockenturm der Hauptstadt versammelt. Sie waren gekommen, um den Probeflug des "Erfinders" Nikischka zu sehen.

Nikischka war der Leibeigene des Grafen Lupatowski; er hatte in langer Arbeit ein paar Flügel gebaut, richtige Flügel, mit denen er fliegen wollte. Von seiner sonderbaren Erfindung hatte der Zar Kenntnis erhalten und hatte Nikischka befohlen, vom Turme der Kirche von Alexandrowskaja aus einen Flug vorzufuhren. An dem Eingang des Turmes stand neben seinem gewaltigen Flügelpaar der Erfinder und wartete auf die Ankunft des Zaren; er war sichtlich verlegen, weil sich die Blicke all der Hunderte auf ihn richteten. Plötzlich erschien an der Straßenbiegung ein Vorreiter und verkündete mit lauter Stimme die Ankunft des Herrschers. Augenblicklich verstummte das fröhliche Geplauder der Menge; die Männer entblößten die Köpfe und verneigten sich. Von sechs Pferden gezogen, stob der Zarenschlitten heran und hielt vor dem Zelt, das gegenüber dem Glockenturm errichtet war. Umgeben von seinem Gefolge und den Mitgliedern einer fremden Gesandtschaft, denen er das Schauspiel vorführen wollte, nahm Iwan auf dem Thronsessel Platz und ließ seinen finsteren Blick über die geduckte Menge schweifen. Da erblickte er den Flieger, der noch immer erregt von einem Fuß auf den anderen trat, und gab ihm einen Wink, seine Vorführung zu beginnen. Nikischka bückte sich zu seinen Flügeln, riß sie mit einem schnellen Ruck an sich und begann eilig, als fühlte er sich verfolgt, die Turmtreppe hinaufzusteigen.

Während nun die Neugier alle Anwesenden in Spannung hielt, rutschte der Dolmetscher auf den Knien zum Throne und sprach: "Herr, die Fremden bitten dich, das Schauspiel abzubrechen, sie möchten nicht mit ansehen, wie sich der arme Narr sicher zu Tode stürzt." Statt einer Antwort stieß Iwan dem Dolmetscher mit aller Kraft sein Zepter in die Achsel, daß er stöhnend zurückwich.

Inzwischen war Nikischka auf der Plattform des Turmes erschienen; er trat zum Rand vor und maß die Tiefe mit den Augen, dann steckte er den Kopf durch den Ring seines Flügelpaares, rief mit lauter Stimme: "Achtung!" und sprang ab. Ein Schrei der Erregung kam von der Menge, doch die Flügel spannten sich, wie ein Riesenvogel schwebte der Flieger über den Köpfen der Zuschauer, um dann langsam und sicher gleitend sich zur Erde zu senken. Als der Leibeigene die Füße auf den Boden setzte, atmete die Menge erleichtert auf. Die Gäste faßten sich zuerst und liefen aus dem Zelt auf den erfolgreichen Flieger zu. Der Zar hatte mit zusammengezogenen Brauen aufmerksam den Flug verfolgt, nun, da er die Gäste an sich vorüberlaufen sah, sagte er mit zufriedener Miene:

"Ich möchte wissen, ob die Fremden so etwas daheim in ihrem Lande haben!"

Aber plötzlich legten sich finstere Schatten auf sein Gesicht, seine Augen irrten haltlos umher; hastig riß er die Pelzmütze vom Kopf und stieß die Worte hervor: "Nein, es ist nicht Gottes Werk!" Und sich bekreuzigend stammelte er noch einmal:
"Nicht Gottes!"

Als jetzt der Flieger die Stufen zum Thron heraufgeführt wurde, sah ihn der Zar mit zornrotem Gesicht und irren Augen an: "Das ist Teufelswerk!" schrie er wutbebend. "Der Mensch ist kein Vogel, er hat keine Flügel! Gott will nicht, daß er fliege!" Dann wurde er etwas ruhiger und befahl dem Führer der Leibwache mit fester Stimme: "Hinweg mit ihm, und schlag ihm den Kopf ab!" Scheu wich die Menge zurück, als Nikischka abgeführt wurde.

Aufgeregt flüsterten die Gäste, als ihnen das Urteil des Zaren übersetzt wurde, und einer von ihnen hob die Flügel von der Erde auf, sah sie lächelnd an und näherte sich damit dem Schrecklichen. "Herr, sie bitten dich um dieses Spielzeug", sagte der Dolmetscher, doch der Zar entriß dem Fremden die Flügel mit eigener Hand, warf sie dem Führer der Wache vor die Füße und befahl barsch: "Morgen wirfst du das Teufelszeug ins Feuer!" So endete der erste Menschenflug in Rußland mit dem Tode des Erfinders.


Quelle: Oskar Ebermann, Sagen der Technik, o. J., S. 59