KÜNSTLICHE BÄUME

Seit uralten Zeiten ist der Baum dem deutschen Volke lieb und vertraut. Die Sage erzählt, daß die ersten Menschen aus Bäumen hervorgegangen seien, und im bäuerlichen Brauchtume wird an vielen Orten bei der Geburt eines Kindes ein Baum gepflanzt, der mit dem Leben des Menschen eng verbunden ist. Im Maibrauchtume ist der Maibaum Mittelpunkt des festlichen Getriebes, und zu Weihnachten steht wieder der Weihnachtsbaum in jedem Hause.

In der Sage und im Märchen steht der Lebensbaum mit seinen Früchten, die Gesundheit und Leben spenden, in einem von der Menschenwelt weit entfernten, nur einem auserwählten Helden erreichbaren und wohl umhegten Garten, den wilde Tiere bewachen, um jeden unbefugten Eindringling abzuhalten. Herrin dieses Gartens und des Baumes darin ist eine Jungfrau, die dem Helden als Gattin folgt, der alle Mühsale und Gefahren überwindet, die ihn von seinem Ziele trennen, und den Weg in den wunderbaren Garten erkämpft.

In der Sage vom Rosengarten zu Worms ist Kriemhild die Herrin eines Gartens voll der herrlichsten Rosen, den zwar nur ein seidener Faden umhegt, in den aber dennoch niemand eindringen kann, weil ihn die besten und stärksten Helden bewachen. Inmitten dieses Gartens steht ein Baum, aber er ist kein natürliches Gewächs, sondern als wahres Wunderwerk von Menschenhand geschaffen. So wie den Festplatz des Dorfes eine Linde überschattet, um die der Reigen geht, ist auch dieser Baum eine Linde, so mächtig, daß Hunderte in seinem Schatten Platz finden. In seinem Geäste sitzen künstliche Vögel und erfreuen Kriemhild und ihre Jungfrauen durch ihren Gesang. Denn die Künstlerhand hat selbst Vogelstimmen schaffen verstanden, die Blasebälge, von denen Röhren zu den Vögeln führen, erklingen lassen.

Von diesem Baume aus sieht Kriemhild dem Kampfe zu, in dem ihre Helden den Garten gegen Dietrich von Bern und seine tapferen Gefährten verteidigen, aber allesamt besiegt werden, so daß Dietrich und die Seinen den Siegespreis erringen, jeder einen Kranz von Rosen und einen Kuß Kriemhilds.

Es ist die große Bedeutung des Baumes für das gesamte Leben und Denken des Volkes, die in Wirklichkeit und Sage den künstlichen Baum hat erstehen lassen. So erzählt die Sage, daß auch in der Gralsburg ein solcher künstlicher Baum aus rotem Golde stand; künstlich waren daran Äste, Zweige und Blätter aus dem Metalle nachgebildet, und überall im Geäste saßen die Vögel. So groß war die Meisterschaft des Künstlers, dessen Hand das Werk gestaltet hatte, daß jeder der Vögel den Ruf erschallen ließ, der ihm seiner Natur nach zukam. Auch der kühne Held Wolfdietrich, den seine eigenen Brüder aus dem Vatererbe vertrieben hatten, lernte einmal einen solchen Baum kennen. Auf einer seiner weiten Fahrten kam er vor die Burg Buden, wo der grausame Belian mit seiner schönen Tochter Marpali hauste. Wohl graute Wolfdietrich, als er an die Burg herangeritten war, denn viele Menschenhäupter steckten auf den Zinnen, Aber es wollte Nacht werden, er hatte nicht Speise noch Trank und wußte keine andere Unterkunft. Schon kamen auch die Burgleute, ihn zu begrüßen, und so ritt er denn zu Buden ein. Als er zu Tische geführt wurde, da erhob sich über der Tafel ein wunderbarer Baum, eine mit edlem Gesteine verzierte, aus Metall gegossene Linde. Auch in ihrem Gezweige saßen Vögel, und Blasebälge sandten die Druckluft durch silberne Röhren im Stamme der Linde zu den Vögeln, die so ihre Stimme erschallen lassen konnten, als ob sie lebten.

Einen heimtückischen Plan hatte Belian sich ausgedacht, als er Wolfdietrich auf seine Burg einladen hieß. Noch war der Platz für ein Menschenhaupt auf den Zinnen frei, und für ihn war Wolfdietrichs Kopf bestimmt. Diesmal aber kam es anders, als der Unhold gedacht hatte. Denn Wolfdietrich erwies sich als Meister im Messerwurfe, zu dem ihn Belian herausgefordert hatte, um ihn zu töten; Wolfdietrichs sichere Hand durchbohrte in sicherem Wurfe das Herz seines Gegners, so daß Belian tot zu Boden sank.


Quelle: Oskar Ebermann, Sagen der Technik, o. J., S. 45