VIRGILIUS FLIEGT IN EINEM SCHIFF DURCH DIE LUFT
Einst hatte Virgilius den römischen Kaiser erzürnt, so daß dieser ihn ins Gefängnis werfen ließ. Als er nun eines Tages mit den übrigen Gefangenen im Hofe des Gefängnisses umherging, nahm er eine Kohle aus der toten Asche, die in einem Winkel lag, und zeichnete damit ein großes Schiff an die Wand. Sobald das Schiff fertig war, sagte er zu den Gefangenen, sie sollten nur in das Schiff steigen und mit ihm davonfahren. Ein Haufen von Gefangenen stellte sich gleichsam zum Scherz an die Wand vor das gemalte Schiff, Virgilius gab jedem statt eines Ruders einen Stock in die Hand, dann nahm er selbst am Steuer Platz und sagte: "Wenn ich euch ein Zeichen gebe, so fangt ihr alle mit euren Stöcken an zu rudern." Als alles fertig war, gab er das Zeichen, und sobald die Männer zu rudern begannen, erhob sich das Schiff mit ihnen in die Luft und flog nach Apulien. Da ließ Virgilius den Anker auswerfen und landete mit dem Schiff auf einem Hügel. Da zerstreuten sich seine Reisegefährten nach allen Seiten, er selbst aber schlug den Weg nach Neapel ein.
Unterwegs überfiel ihn die Nacht, da klopfte er an die Tür einer Hütte und bat um Aufnahme. Der Bauer hieß ihn freundlich willkommen, er war aber so arm, daß er seinem Gast nicht einmal ein Stückchen Brot anbieten konnte. Da nahm Virgilius einige Weintrauben, die er unterwegs gepflückt hatte, legte sie in eine Tonne und hieß den Bauern Wasser darauf gießen. Darauf zapften sie das Tönnchen an und siehe, es floß der köstlichste Wein heraus. Auch für leckere Speisen wußte Virgilius zu sorgen. Als er am nächsten Morgen Abschied nahm, ließ er seinem armen Wirt das Fäßchen mit dem Wein zurück und versprach ihm, daß er es immer gefüllt finden werde, solange er nicht hineinsehe. Darüber blieb der Bauer lange Zeit sehr vergnügt, denn das Fäßchen blieb immer voll, soviel er auch daraus zapfte. Aber einmal hatte der Bauer so viel getrunken, daß er die Warnung des Zauberers vergaß und in das Spundloch hineinsah, wieviel das Fäßchen wohl noch enthielte. Sogleich versiegte der Inhalt, und der Zapfen blieb trocken, denn es wollte kein Wein mehr herausfließen.
Quelle: Oskar Ebermann, Sagen der Technik, o. J., S. 67